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       # taz.de -- Geflüchtete streiten für Bleiberecht: Geblieben um zu kämpfen
       
       > Seit zehn Jahren streitet die Gruppe "Lampedusa in Hamburg" für ein
       > Bleiberecht. Der Kampf ist gescheitert, sagt Jeano Elong.
       
   IMG Bild: Das zehnjährige Jubiläum der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ ist für Jeano Elong kein Grund zum Feiern
       
       Hamburg taz | Man kann das Logo der Gruppe [1][„Lampedusa in Hamburg“] als
       symbolhaft für die zwei Seiten eines langen Kampfes sehen. Es zeigt einen
       Anker, dessen oberes Ende eine geballte Faust ist. Die Faust steht für den
       politischen Kampf. Der Anker für das Bleiben in Hamburg. Der politische
       Kampf, das kann man heute, nach zehn Jahren, wohl sagen, ist gescheitert.
       Das dauerhafte Ankern in Hamburg, also das eigentliche Ziel des Kampfes,
       ist in vielen Fällen gelungen, in vielen aber nicht.
       
       „Ich werde nicht zum ‚10 Jahre Lampedusa -Festival‘ gehen“, sagt Jeano
       Elong. „Wer dort hingeht, obwohl wir nichts gewonnen haben, ist ein Idiot.“
       Elong ist Mitglied der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ und einer der wenigen,
       die überhaupt noch Interviews zum Thema geben. Viele andere sind frustriert
       und wütend, Elong ist es auch.
       
       Das „Zehn Jahre Lampedusa“-Festival an diesem Wochenende wird von der
       St.-Pauli-Kirche ausgerichtet. Heute vor zehn Jahren, am 2. Juni 2013,
       erlangte die Kirche [2][bundesweite Bekanntheit, weil sie 81 Personen der
       Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ aufnahm]. 350 Afrikaner*innen waren vor
       den Nato-Bomben aus Libyen geflohen und über die Insel Lampedusa nach
       Europa gekommen.
       
       Die italienische Regierung hatte ihnen entgegen der Dublin-Verordnung ein
       Visum für den Schengenraum und jeweils 500 Euro in die Hand gedrückt, damit
       sie das Land verließen. In Hamburg schlossen sie sich zusammen, um
       gemeinsam für ihre Zukunft zu kämpfen. Sie forderten ein Bleiberecht nach
       Paragraf 23 – eine Gruppenlösung, bei der die oberste Landesbehörde einer
       Gruppe Schutzsuchender den Aufenthalt aus humanitären Gründen gewähren
       kann.
       
       ## Olaf Scholz wollte keine Sonderregelung
       
       Doch der von Olaf Scholz geführte SPD-Senat ließ sich nicht darauf ein,
       obwohl der Druck aus der Zivilgesellschaft groß war. Die Gruppe hatte eine
       beispiellose Welle der Solidarität losgetreten. Jeden Mittwoch
       demonstrierten die Geflüchteten und ihre Unterstützer*innen für das
       Bleiberecht.
       
       Ein Zelt im Bahnhofsviertel wurde zur Dauerkundgebung und zum Treffpunkt.
       An einem Freitagabend nach einem St.-Pauli-Spiel gingen mehr als 10.000
       Menschen auf die Straße. Musiker*innen brachten einen Solisampler
       heraus, Schauspieler*innen, Sänger*innen und Filmemacher*innen
       zeigten ihr Gesicht in einer Plakatkampagne, darunter Prominente wie
       Deichkind, Jan Delay, Bela B. und Fatih Akin. Das Kampnagel-Theater
       richtete eine Konferenz aus und installierte ein Kunstprojekt mit
       Schlafplätzen für Geflüchtete. Anwohner*innen besuchten die
       St.-Pauli-Kirche und überschütteten sie mit Sachspenden oder boten ihre
       Unterstützung beim Deutschunterricht und bei Behördengängen an.
       
       Doch wenn es eins gab, was die Geflüchteten nicht wollten, waren es
       Behördengänge. Denn das hätte bedeutet: Personalien werden überprüft – oh,
       ein Dublin-Fall! Und sobald das Schengen-Visum abgelaufen wäre: Abschiebung
       nach Italien. Doch da waren die Zustände in den Lagern unmenschlich. Aber
       [3][Olaf Scholz stellte klar, dass man die Geflüchteten in Deutschland
       ebenfalls nicht haben wolle]. „Es wird keine Sonderregelung geben“,
       wiederholte er mantraartig. Die Polizei versuchte derweil mittels Racial
       Profiling, die Personalien der Geflüchteten zu erfassen.
       
       Als der Senat verkündete, er werde eine kirchliche Obhut nur unter der
       Bedingung dulden, dass sich die Geflüchteten erkennungsdienstlich behandeln
       ließen, räumten die St.-Pauli-Kirche und einige andere Gemeinden ihre Bänke
       zur Seite. „Die Kirche und die Diakonie beteiligen sich nicht an einem
       Abschiebelager“, erklärten Bischöfin Kirsten Fehrs und Landespastorin
       Annegrethe Stoltenberg. Die Schutzsuchenden in den Gemeinden blieben
       anonym.
       
       Im Oktober 2013 machte der Senat der Gruppe ein Angebot: Wer sich
       registrieren ließe, würde eine Duldung und eine Einzelfallprüfung bekommen
       – was aufgrund der Dublin-Regelung eigentlich ausgeschlossen ist, wenn
       jemand in Italien oder einem anderen EU-Staat bereits registriert ist.
       Solange ein Verfahren laufe, werde man die Person nicht abschieben,
       versicherte der Senat. [4][Doch die Geflüchteten vertrauten Scholz nicht.]
       „Unseren von Italien anerkannten Flüchtlingsstatus gegen eine Duldung
       einzutauschen, ist keine konstruktive Lösung, sondern ein Spiel auf Zeit,
       um uns später einzeln abzufertigen“, schrieben sie in einem offenen Brief.
       
       „Man wollte uns spalten“, davon ist Jeano Elong überzeugt. Bei so vielen
       Menschen aus so unterschiedlichen Ländern sei klar gewesen: Einige haben
       bessere Chancen als andere. Manche konnten Englisch, andere weder lesen
       noch schreiben, manche hatten Berufsausbildungen und Abschlüsse, andere
       schwere Traumata. „Aber was sollte aus denen werden, die es nicht
       schaffen?“, fragt Elong. „Wir wollten eine Lösung für alle.“
       
       Doch mit der Zeit trat ein, was Elong und andere befürchtet hatten. Der
       politische Druck auf die Kirche stieg, und damit auch der Druck auf die
       Geflüchteten. Die Pastoren rieten den Schutzsuchenden, das Angebot des
       Senats anzunehmen. Die Mitglieder der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ fühlten
       sich im Stich gelassen. Im Frühjahr 2014 mussten sie die Kirche verlassen.
       „Ich hätte mir gewünscht, dass die Kirche neutral bleibt und sich nicht dem
       Druck des Senats fügt“, sagt Elong. Doch auch viele seiner
       Mitstreiter*innen fügten sich dem Druck und ließen sich registrieren.
       Die Gruppe ist seitdem gespalten.
       
       ## „Jede Gruppe kann sich integrieren“
       
       Insa Graefe hat viele Jahre mit denen zusammengearbeitet, die sich
       entschieden haben, die Duldung anzunehmen. „Fast alle, die diesen Weg
       gewählt haben, waren erfolgreich“, sagt Graefe. Sie ist Anwältin der
       kirchlichen Asylrechtsberatung Fluchtpunkt und hat mit ihren
       Kolleg*innen über hundert Mitglieder der Lampedusa-Gruppe vertreten. „Am
       Anfang wusste niemand, ob das klappt“, sagt Graefe, „auch wir nicht.“ Doch
       die Zusage der Behörden, niemanden abzuschieben, solange die
       Einzelfallprüfung laufe, habe den Geflüchteten Zeit verschafft, sich zu
       integrieren.
       
       Während die Jurist*innen bis ins kleinste Detail darlegten, warum die
       Geflüchteten weder in Italien noch in ihren Herkunftsländern leben konnten,
       lernten die Betroffenen Deutsch, fanden Arbeit, gründeten Familien. „Das
       war sehr harte Arbeit. Je nach Voraussetzungen war es für einige härter als
       für andere“, sagt Graefe. Aber die große Unterstützung aus der
       Zivilgesellschaft und die enorme Motivation der Geflüchteten habe es
       möglich gemacht.
       
       Am Ende trugen die Anwält*innen die Integrationsleistungen [5][der
       Härtefallkommission vor]. Die Kommission habe in allen Fällen positiv
       entschieden, sagt Graefe. Für diejenigen, denen es etwa aufgrund schwerer
       Traumata zu schlecht ging, um die hohen Anforderungen zu erfüllen, habe
       Fluchtpunkt Abschiebeverbote erwirkt. Nur fünf Personen haben es laut
       Graefe nicht geschafft, weil sie gestorben sind oder das Verfahren
       abgebrochen haben.
       
       Für Fluchtpunkt ist [6][das Jubiläum] also durchaus ein Grund zum Feiern.
       Und obwohl die Umstände der Lampedusa-Gruppe so einzigartig waren, lässt
       sich etwas daraus für die Zukunft ableiten, meint Graefe: „Jede Gruppe kann
       sich integrieren, wenn sie genug Zeit und Unterstützung bekommt. Leider
       bekommen viele diese Chance nicht, weil gesagt wird: ‚Die schaffen das
       ohnehin nicht‘. Das ist aber Quatsch.“ Und noch etwas könne man aus dem
       Prozess der Gruppe lernen: „Politische Kämpfe haben manchmal mehr Erfolg,
       als man vorher glaubt.“
       
       ## Hunderte Male auf Demos gesprochen – und wofür?
       
       Jeano Elong würde das auch gern glauben. „Ich habe immer Hoffnung, ich bin
       Afrikaner“, sagt er. „Wir geben die Hoffnung niemals auf.“ Aber erfolgreich
       ist an dem politischen Kampf der Lampedusa-Gruppe für ihn wenig. „Was haben
       wir denn erreicht?“, fragt er. Auf Hunderten Kundgebungen haben er und
       andere gesprochen, unendliche viele Interviews gegeben, sich zigmal mit
       Politiker*innen, Reporter*innen und Aktivist*innen getroffen, alles
       immer und immer wieder erzählt, gefordert, appelliert.
       
       Doch alles, was sie erreicht hätten, seien individuelle Lösungen, sagt
       Elong. Er selbst ist mit einer Deutschen verheiratet und hat deshalb den
       Aufenthaltstitel. Er arbeitet, lebt seit Jahren in der gleichen WG und
       macht professionell Musik. So wie er haben es nur eine Handvoll anderer
       geschafft – über Heirat oder Kinder, anders geht es nicht, solange die
       Politik sich nicht ändert. Andere Gruppenmitglieder, die damals die Duldung
       nicht nahmen, leben heute auf der Straße oder in Obdachlosenunterkünften,
       manche sind sucht- oder psychisch krank, andere nach Italien oder anderswo
       hingegangen.
       
       Ist Elong glücklich mit seinem Leben hier? „Ich bin glücklich, egal wo ich
       bin. Ich lebe“, sagt er. Was ihn unglücklich mache, sei, wenn er seine
       Mitstreiter*innen sehe, die nicht die Chance haben, ein sicheres Leben
       zu führen wie er.
       
       2 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR [6] https://www.stpaulikirche.de/here-to-stay-festival/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Schipkowski
       
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