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       # taz.de -- Nationale Minderheiten in Norwegen: Menschen, die der Staat nicht wollte
       
       > Norwegen verfolgte jahrzehntelang eine rücksichtslose
       > Assimilierungspolitik gegenüber indigenen Samen. Nun gibt es einen
       > umfassenden Bericht.
       
   IMG Bild: Die Präsidentin des Samenparlaments Silje Karine Muotka
       
       Stockholm taz | „Ab heute gilt ein neues Gesetz und nach dem ist es nicht
       mehr erlaubt Same zu sein.“ Agnete ist 11 Jahre alt, als Lehrer Larsen
       eines Tages mit über der Brust verschränkten Armen hinter dem Katheder
       steht, einen strengen Blick über die Klasse schweifen lässt und Agnete und
       ihren MitschülerInnen erklärt, was das bedeutet: „Es wird ab jetzt nicht
       mehr Samisch gedacht und auch nicht mehr Samisch gesprochen.“ Wer es
       dennoch tue und auf seine Fragen nicht Norwegisch antworte, werde zur
       Strafe in die Ecke gestellt und falls das nicht helfe, werde es Ohrfeigen
       und Schläge geben.
       
       Sie sei schockiert gewesen, erinnert sich Agnete. Und habe diese Szene aus
       den 1930er Jahren ihr Leben lang nicht vergessen können. Aber als
       pflichtbewusstes Mädchen gehorchte sie dem Lehrer. Auf die Frage
       „norwegisch oder samisch?“ habe ihre Antwort dann mehr als 70 Jahre lang
       „norwegisch“ gelautet, erinnert sich die 96-Jährige. Nicht einmal Rolf, mit
       dem sie fünfzig Jahre verheiratet war, wagte sie ihre samische Herkunft zu
       gestehen. Erst in den letzten Jahren habe sie ihrer Tochter Gerd nach und
       nach von ihren Wurzeln erzählen können.
       
       Seit Mitte des 19. Jahrhunderts an hatte Norwegen ganz offiziell eine
       rücksichtslose Assimilierungspolitik gegenüber den indigenen Samen und
       anderen in Nordnorwegen lebenden nationalen Minderheiten geführt. Nachdem
       vorangegangene Regierungen das noch abgelehnt hatten, setzte das
       norwegische Parlament 2018 endlich eine „Wahrheits- und
       Versöhnungskommission“ ein mit dem Auftrag, die Politik der Norwegisierung
       („Fornorsking“) und der Auswirkungen, die diese Politik bis heute für die
       betroffenen Minderheiten hat, zu untersuchen.
       
       ## „Faustschlag ins Gesicht der nationalen Selbstzufriedenheit“
       
       Am Donnerstag legte diese in Oslo ihren [1][Rapport über das „Unrecht gegen
       Samen, Kvenen, Norwegen- und Waldfinnen“] mit dem Titel „Wahrheit und
       Versöhnung“ vor.
       
       Als einen „Bericht der Schande“ und einen „Faustschlag ins Gesicht der
       nationalen Selbstzufriedenheit“ fasst die konservative Aftenposten die 758
       Seiten zusammen: „Ein brutales Szenario, das unser Selbstbild beschädigt.
       Über einen Zeitraum von mehr als 150 Jahren wurde unter staatlicher
       Schirmherrschaft systematisches Unrecht begangen. Und das wirft noch bis in
       unserer Zeit dunkle Schatten.“
       
       Man habe bei unzähligen Menschen nicht mehr wiedergutzumachende Schäden
       angerichtet, kommentiert die Tageszeitung VG und Dagbladet konstatiert
       unter der Überschrift „Ein norwegischer Schandfleck“: „Beinahe hätte die
       Politik ihr unheimliches Ziel der Assimilierung mit dem Verlust von Sprache
       und Kultur als Folge auch erreicht.“
       
       Im Laufe der Jahrzehnte fand die Politik immer neue Begründungen dafür,
       warum es so wichtig sein sollte, Samen und nationale Minderheiten zu
       „Norwegern“ machen zu müssen: Mal war es Nationenbildung oder Religion, mal
       Evolutionstheorie und „Rassenlehre“. Samen galten als „minderwertig“,
       weshalb es nur positiv sei, wenn ihre Sprache und Kultur verschwinden
       würden, hieß es beispielsweise. So wurden samischen Eltern zwangsweise ihre
       Kinder weggenommen und an norwegische Pflegeltern gegeben, zwischen den
       1930er und den 1950er Jahren gab es Zwangssterilisierungen.
       
       ## Abgewertet und diskriminiert
       
       Wie diese institutionelle Abwertung und Diskriminierung noch in den 1960er
       Jahren aussehen konnte, obwohl damals die Norwegisierungsdoktrin offiziell
       schon nicht mehr galt, schildert die 65-jährige Inger Tjikkom, eine von 760
       Personen, die in dem Kommissionsrapport zu Wort kommen. Gleich zur
       Einschulung hätten Schule und Gemeinde entschieden, dass sie und die
       anderen samischen Kinder „zurückgeblieben“ seien und deshalb eine
       staatliche Sonderschule für „Zurückgebliebene“ besuchen müssten. „Mir
       wurden Wunden zugefügt, die irreparabel sind“, erzählt sie. „Als Kind bin
       ich schikaniert und verspottet worden und das verfolgt einen sein Leben
       lang.“
       
       In der auch von Inger Tjikkom besuchten Schule seien die samischen Kinder
       „psychischer und physischer Gewalt durch Mitschüler und Lehrer ausgesetzt“
       gewesen, heißt es im Rapport: In keinster Weise sei „der samische
       Hintergrund der Kinder und die Tatsache, dass ihre erste Sprache Samisch
       war, berücksichtigt worden“. Die samischen Kinder seien deshalb im
       schulischen Kontext zu kurz gekommen, ihre Schwierigkeiten seien von den
       Lehrern als „samische Eigenheiten“ abgetan, die Samen als in mehrfacher
       Hinsicht „zweitklassiges Volk“ betrachtet worden.
       
       Die weitverbreitete Einstellung unter den Lehrern sei gewesen, „dass die
       samischen Schüler es nicht wert seien, Zeit in sie zu investieren und dass
       man sie einfach aufgeben solle“, heißt es in dem Bericht. Angesichts
       solcher Umstände sei es geradezu verwunderlich, wie es den Samen und Kvenen
       trotzdem weithin gelungen sei, „an ihrer Loyalität und Liebe zu ihrer
       Herkunft festzuhalten und für ihre eigene Identität, Sprache und Würde und
       die ihrer Kinder zu kämpfen“, konstatiert der Rapport.
       
       ## Kulturförderung und Wiedergutmachung
       
       „Norwegen hat nach internationalem Recht eine besondere Verantwortung
       gegenüber indigenen Völkern und nationalen Minderheiten“ betont die
       Kommission: Es beginne nun die eigentliche Arbeit, der Bericht müsse auch
       Folgen haben. Neben weiterer Forschungsarbeit und einem nationalen
       Kompetenzzentrum fordert sie vor allem erst einmal mehr Geld für die
       Förderung von Sprache und Kultur der fraglichen nationalen Minderheiten.
       Und auch die Frage finanzieller Wiedergutmachungsleistungen wird
       aufgeworfen.
       
       Dass Norwegen nun endlich offiziell von dem ihrem Volk zugefügtem Unrecht
       Kenntnis nehme, könne diesen Tag zu einem historischem machen, sagte Silje
       Karine Muotka, die Präsidentin des Samenparlaments anlässlich der
       Präsentation des Rapports.
       
       2 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.stortinget.no/globalassets/pdf/sannhets--og-forsoningskommisjonen/rapport-til-stortinget-fra-sannhets--og-forsoningskommisjonen.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Reinhard Wolff
       
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