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       # taz.de -- Kindertheater im öffentlichen Raum: Von Möhren und Monstern
       
       > Das Theaterstück „Fundstadt“ zeigt die Welt aus Sicht von Kindern. Dabei
       > erschließt es geheimnisvolle Schleichwege von Bremen bis nach
       > Gelsenkirchen.
       
   IMG Bild: Schleichwege ins Unbewusste: Audiowalk durchs Bremer Viertel
       
       Hinauf auf verwunschene Hügel steigt der Weg, durch wucherndes Gras auf
       verwaisten Spielplätzen, unter Parkbänke und über einsame Hinterhöfe: In
       die „Fundstadt“ führen nur Schleichwege. Dabei sind wir eigentlich mitten
       in Bremen, ganz nah der Innenstadt, wo es zwar recht hübsch ist, aber
       bestimmt nicht magisch und unter uns gesagt auch sonst nicht sonderlich
       aufregend. Heute aber schon. Ja, selbst die am sonnigen Wochenende in
       Scharen herumstolpernden Touris wirken so sonderbar unergründlich, als
       hätten sie ein Geheimnis – oder spannender noch: als würden sie unsere
       Geheimnisse kennen.
       
       „Fundstadt“ ist ein Theaterprojekt im öffentlichen Raum, ausgerichtet vom
       Bremer Stadttheater, organisiert und durchgeführt [1][vom Hiatus-Kollektiv]
       und Kindern, die von hier kommen oder aus Gelsenkirchen, wovon später noch
       die Rede sein wird. Erst mal aber klingt treffender, dass die Produktion im
       Nirgendwo spielt, oder jedenfalls sehr erfolgreich darin ist, das Bremen
       drumrum aufzulösen.
       
       Zumindest die technische Seite des Zaubertricks ist dabei im Grunde ganz
       einfach erklärt. Ausgehend vom Brauhaus im Innenhof des Theaters wird das
       Publikum mit Tablets um den Hals in die Umgebung ausgesandt, um sich von
       Foto zu Foto durch beschauliche Altbau-Seitenstraßen zu manövrieren. Die
       Schnitzeljagd führt durchs Grün hinter der berühmten Kunsthalle, über die
       Altmannshöhe an die Weser und von da noch weiter.
       
       Unterwegs lassen sich an verschiedenen Stationen versteckte QR-Codes
       scannen, die zu Videos führen, die Piet Eschs und Aike Stuarts mit jungen
       Akteuren gedreht haben. Und auch in der Echtwelt drumherum sind immer
       wieder freilaufende Menschen zu entdecken, die sich irgendwie sonderbar
       verhalten. Sie spielen dann entweder Trompete vom Balkon oder führen am
       Handy lautstark genau jene Diskussionen fort, die eben noch im Video ums
       Eck begonnen hatten.
       
       ## Renaissance der frischen Luft
       
       Audio- oder Videowalk heißt das Format, das zwar schon eine ganze Weile zu
       den Theaterstandards zählt, gerade unter Coronabedingungen aber eine kleine
       Renaissance erlebt hat. Die Gründe liegen auf der Hand: Virenangst trieb
       das Publikum raus an die frische Luft, und umgekehrt konnten die mitunter
       [2][arg gebeutelten Kulturinstitutionen] endlich wieder auf die lange
       verwehrte Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit hoffen.
       
       Für die „Fundstadt“-Premiere in Bremen haute das hin, nicht nur der Part
       fürs Publikum, sondern auch für ganz normale Spaziergänger:innen, die sich
       urplötzlich zwischen Menschen mit bunten Capes, Kopfhörern und umgehängten
       Tablets wiederfanden, die auf der Suche nach aufgeklebten QR-Codes um
       Parkbänke schlichen, Laternenpfähle und Mülleimer inspizierten.
       
       Die eigentlichen Stars der Produktion waren dann aber doch die Kinder und
       Jugendlichen, die in Bremen übrigens auch sonst eine [3][außerordentlich
       hochwertige] und erfolgreiche Sparte des Stadttheaters bespielen. Sie waren
       schon Wochen vorher mit Duri Collenberg, Uta Plate und Lukas Rickli von
       Hiatus durch die Stadt gezogen und hatten ihre Lebenswelten präsentiert:
       räumliche wie emotionale. Gemeinsam mit den Theaterleuten haben sie je ein
       „Ding“ erschaffen und ein Video darüber gedreht. Ali hat eine gespenstisch
       leuchtende Kiste entworfen, die er vor unsichtbaren Verfolgern in den
       Eingeweiden eines Hochhauses verstecken muss.
       
       Jason wiederum trifft sein außerirdisches Monster mit Krebsscheren in einem
       bunt ausgeleuchteten Keller. In einem weiteren Video fällt einfach eine
       Möhre vom Himmel, die noch viel kompliziertere Geheimnisse birgt. Das
       Filmgemüse begegnet uns später nämlich auch außerhalb des Videos als
       Staffelstab, den sich scheinbar zufällig über den Weg rennende Kinder
       zuwerfen.
       
       Spätestens auf dem Hügel an der Weser sind die Theatergänger:innen
       auch längst nicht mehr die Einzigen, die sich hier niederlassen. Gleich
       neben der versteckten Videostation sitzt schon eine Gruppe auf Klappstühlen
       im Kreis und schielt immer wieder heimlich herüber. Und wir zurück: Man
       fragt sich schon, ob die wohl auch dazugehören. Hat die eine nicht eben
       auch so sonderbar wissend gelächelt? Aber nein, sie prostet uns mit ihrem
       im Jugendtheater doch eher deplatzierten Schnapsglas zu und verzieht
       angestrengt die Miene. Ihre Tour ist eine Gin-Probe und nur zufällig zur
       selben Zeit am selben Ort angelandet.
       
       Und doch hat der kurze gemeinsame Moment etwas am Blick auf die Umwelt
       geändert. Aus dem grundsätzlichen Misstrauen urbaner Erwachsener ist ganz
       kurz so was wie echte Neugier geworden.
       
       ## Die Logistik des Verlaufens
       
       Für die clevere Logistik des Theaterspaziergangs spricht, dass man diese
       Entdeckungsreise weitgehend allein oder zu zweit bestreitet und nur
       gelegentlich auf andere Teilnehmer:innen trifft, die auf je eigenen
       Pfaden durch die „Fundstadt“ geführt werden – und damit selbst zu kuriosen
       Begegnung am Wegesrand werden, die unterm Strich auch gar nicht weniger
       irritieren als das Krebsmonster aus Jasons Video.
       
       Die Sache klingt nun ehrlich gesagt schon ein bisschen kitschig: die Welt
       mit Kinderaugen zu sehen und ein bisschen diesen Zauber zu bergen, der
       irgendwann und irgendwie einmal verschütt gegangen sein muss. Aber genau so
       fühlt es sich eben an, wenn die ersten Irritationen darüber aufkommen, was
       hier eigentlich Theater ist – und was vielleicht doch ganz einfach so zur
       Welt gehört.
       
       Bemerkenswert ist die Nachhaltigkeit dieser Erfahrung. Auch wer hier ein
       paar Tage später durchs Gelände stapft, entdeckt noch Spuren der Aufführung
       und ertappt sich immer wieder dabei, nach Pfaden in die „Fundstadt“ zu
       spähen. Und auch wenn sich das so leicht sagt: Theater (die Künste
       überhaupt!) bekommt so was nur sehr, sehr selten wirklich hin.
       
       Die Produktion ist Teil von NOperas!, einer Förderinitiative für Neues
       Musiktheater, die in Bremen bisher mit zweieinhalb Produktionen zu erleben
       war. „[4][Kitesh“] und „[5][Obsessions“] waren auf der Bremer Bühne zu
       sehen, das Corona-Opfer „Chaosmos“ immerhin als nachgeholtes Videotheater
       im Netz. Der musikalische Anteil der aktuellen Produktion ist nun etwas
       dezenter als bei den Vorgängern, darum aber nicht weniger wirkmächtig. Die
       Kinder haben am Smartphone assoziative Klangwelten geschaffen und diese in
       enger Zusammenarbeit mit professionellen Instrumentalist:innen in
       umsetzbare Formen gebracht.
       
       ## Schleichweg nach Gelsenkirchen
       
       Und mit der Musik wären wir dann übrigens endlich in Gelsenkirchen
       angelangt, weil NOperas!-Produktionen immer zwischen verschiedenen
       Theaterhäusern entstehen. Bremen hat soeben die Premiere an der Weser
       gestemmt, weitergespielt wird „Fundstadt“ nun aber [6][am 17. und 18. Juni
       im Ruhrpott: beim Musiktheater im Revier], wo die Pfade nicht mehr durchs
       altstädtische Grün, sondern in eher gräuliche Häuserschluchten führen.
       
       Kurz zu sehen waren die freilich auch schon in den Videos der
       Gelsenkirchener Kinder auf dem Tablet. Und das ist keine
       produktionstechnische Notwendigkeit, sondern ein ganz wesentliches Moment
       der andersweltlichen Erfahrung. Mag ja sein, dass der Plattenbau im Video
       auf Anhieb nicht nach Bremen aussieht, aber ganz sicher ist man eben doch
       nicht. Und während man sich körperlich noch in den verwinkelten Gässchen
       des Bremer Steintorviertels verläuft, hat das Hirn längst angefangen, die
       Kennzeichen im Video vorbeifahrender Autos zu scannen: Steht da HB, oder
       doch GE?
       
       Und auch die Erzählungen der Kinder wirken mit der Zeit immer weniger
       universell, auch wenn sie an der Oberfläche sehr ähnliche Probleme haben.
       Das Video einer Schülerin führt uns etwa an eine Brache in Gelsenkirchen,
       wo früher ihr Schwimmbad stand und dann eine Polizeischule gebaut werden
       sollte. Großeltern im Ruhrpott haben kaputte Lungen vom Schuften unter Tage
       – und wenig Geld, weil mit dem Ende der Industrie zwar die Luft besser,
       aber auch die Arbeit rar wurde.
       
       Nun gut: Arme Kinder gibt es in beiden Städten erstens viel zu viele und
       zweitens auch mehr als anderswo in Deutschland.
       
       Aber gerade der visuelle Kontrast zwischen Bremens Hochkultur-Quartier und
       der Ruhrpott-Platte, die man eben zugleich durchwandert, lässt sehr subtil
       und sehr tief einsickern, was das für Kinder heißt. Auch wenn die gerade
       ganz andere Sorgen haben, wie Ärger mit der Schule etwa oder die ja auch
       herzerwärmende Frage, ob man als Tierärztin später eigentlich einen Freund
       haben könne, wenn man sich im Zweifel doch nicht um den, sondern um einen
       kranken Leopard zu kümmern habe.
       
       Ob mit „Fundstadt“ nun die Neuerfindung des Musiktheaters vollzogen wurde,
       sei mal dahingestellt. Viel wichtiger – und dann eben auch gar nicht mehr
       kitschig – ist, wie nachhaltig ein Theaterstück von Kindern den Blick auf
       die Welt verändern kann: über Generationen hinaus, über Stadtgrenzen hinweg
       und auch lange, nachdem das Stück eigentlich vorbei ist.
       
       18 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.noperas.de/hiatus/
   DIR [2] /Bilanz-der-Saison-des-Bremer-Theaters/!5694318
   DIR [3] /Jugendthater-mit-Schwaechen/!5464635
   DIR [4] https://www.theaterbremen.de/de_DE/programm/noperas-kitesh.1303413
   DIR [5] https://www.noperas.de/projekte/oblivia-yiran-zhao-obsessions/
   DIR [6] https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2022-23/noperas-fundstadt
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan-Paul Koopmann
       
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