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       # taz.de -- Debütroman von Lisa Roy: Chicken, Psychohorror, Instagram
       
       > In "Keine gute Geschichte" porträtiert Lisa Roy nicht nur das abhängige
       > Subproletariat. Zugleich seziert sie die glitzernde
       > Social-Media-Avantgarde.
       
   IMG Bild: Überall in diesem Roman gibt es doppelte Böden. Die Großmutter lebt mit Nacktkatzen zusammen
       
       Die „Gegenwart“ ist seit einiger Zeit wieder einmal besonders ideologisch
       aufgeladen. „Wirklich in der Gegenwart zu leben“ ist ein Wert an sich. Das
       hat natürlich in erster Linie etwas mit gerade angesagten Trends und Moden
       zu tun und soll Störgeräusche fernhalten.
       
       Lisa Roys Debütroman indes geht da ganz anders vor. Er stellt sich der
       Gegenwart unmittelbar, er vibriert förmlich von ihr. Aber es ist, wie der
       Titel schon sagt und was allen gängigen Mediendiskursen zuwiderläuft,
       [1][„keine gute Geschichte“.] Selten wurden die Rahmenbedingungen des
       zeitgenössischen Alltags und die Konditionierungen der Wahrnehmung so genau
       seziert wie in dieser Prosa.
       
       Arielle Freytag ist Anfang Dreißig und Social-Media-Managerin in einer
       Influencer-Agentur. Das merkt man ihrer Sprache auch an. Sie erzählt in
       Ich-Form, durchschaut alles und ist trotzdem immer Teil des Ganzen und
       mittendrin. Sie hat den Absprung aus einem prekären Milieu in Essen-Nord
       nach Düsseldorf geschafft, ein paar Jahre lang ordentlich Geld verdient,
       ohne eine akademische oder sonstige Ausbildung dafür zu haben, und einen
       sicheren Instinkt für das, was zählt.
       
       Und sie sieht gut aus – aber das hängt wieder eng mit ihrer schwierigen
       Herkunft zusammen, denn ihr unbekannter Vater muss aus undefinierbaren
       südlichen Regionen gekommen sein und ihr dabei seine Latin-Lover-Attribute
       übermittelt haben.
       
       ## Coole, gebrochene Dialoge
       
       Nach mehr als zehn Jahren kommt sie zum ersten Mal wieder in das Viertel,
       in dem sie aufgewachsen ist und das seit Jahrzehnten durch alle möglichen
       Formen der Immigration geprägt wurde. Ihre junge Mutter ist unter ominösen
       Umständen verschwunden, als Arielle sechs Jahre alt war, sie lebte dann im
       Haushalt der Großmutter.
       
       Arielle findet ihr Kinderzimmer genauso vor, wie sie es damals verlassen
       hat, und die Großmutter, die sich „Varuna“ nennt, aber eigentlich Heidrun
       heißt, ist genauso absonderlich und verquer wie eh und je. Sie gibt
       Töpferkurse im Nachbarschaftstreff, lebt mit diversen Nacktkatzen und
       Kakteen zusammen und verbindet ihr merkwürdiges Hippietum mit einer
       zynischen Lebensabgewandtheit.
       
       Überall gibt es doppelte Böden. Alles erscheint erst einmal grell, aber
       langsam wird klar, dass es sich bei der Ich-Perspektive Arielles um eine
       Kunstform handelt, die unter der Hand gebrochen wird – ihre Attitüden, ihre
       Statements, ihre coolen Dialoge inszenieren sich als eine Pose. Es tut sich
       ein Abgrund auf, und fast sogartig wird man mit hineingezogen. [2][In
       Essen-Katernberg] stößt Arielle sofort auf den Umstand, dass gerade zwei
       vorpubertäre Mädchen entführt worden sind. Unwillkürlich stellt sich für
       die Protagonistin eine Verbindung zu ihrer früh verschollenen Mutter her.
       
       Es ist charakteristisch, wie sie an der Tür von „Kodak Döner“ die
       Vermisstenanzeigen wahrnimmt, manche handgebastelt, andere offiziell von
       der Polizei ausgehängt: „Würden verschwundene Mädchen von Coca-Cola
       gesponsert, hätte das anders ausgesehen. Es hätte CLPs mit Bewegtbildern
       gegeben, irgendeinen interaktiven Kack, Micro-Influencer hätten auf ihren
       Channels mitgeholfen, alles wäre glatter und weniger verzweifelt homemade.“
       
       Das Aufeinanderprallen der Düsseldorfer Social-Media-Professionellen mit
       ihren alten Freundinnen und Klassenkameradinnen aus dem abgehängten
       Ruhrpottmilieu führt zu enormen Reizen, mit hyperrealistischen Szenen und
       knappen, pointierten Dialogen. Einerseits zeigt sich der Roman als eine
       prägnante Sozialstudie, andererseits aber entwickelt er eine seltsam
       flirrende und schwer greifbare Komik, die auf dem schmalen Grat der
       Verzweiflung balanciert.
       
       ## Sehnsucht nach Cocktails
       
       Wenn Arielle mit ihrer früheren Realschulfreundin Melanie zusammentrifft,
       die 20 Stunden in der Woche bei Lidl an der Kasse sitzt und daneben schwarz
       als Putzfrau jobbt, überfällt sie automatisch die Sehnsucht danach, wieder
       „auf den Dachterrassen gläserner Hochhäuser Cocktails“ zu trinken. Und sie
       findet es immer noch gut, diesen Weg gewählt zu haben, anstatt wie die
       besseren ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen „in verlausten WGs für
       Anglistik-Klausuren zu büffeln“.
       
       Doch die durch ihre rhetorische Verve und Lakonie bestechende Ich-Erzählung
       Arielles läuft nie Gefahr, bloße Karikaturen zu liefern und abrufbare
       Klischees zu bedienen. Auf raffinierte Weise, geradezu schleichend, werden
       alle handelnden Personen in ihrer individuellen Charakteristik ernst
       genommen und allmählich unverwechselbar.
       
       Melanie entwickelt sich, trotz ihrer Vorliebe für Tiefkühlpizza [3][und
       Chicken Nuggets,] sogar zu einer Art Vertrauten, und auch die zunächst als
       „Gutmensch“ eingestufte Sozialarbeiterin Meryem mit ihrer Ausstrahlung nach
       „Weltmusik und Lagerfeuer“ entpuppt sich als eine überraschend
       differenzierte Figur.
       
       ## Spöttisch und distanziert betrachten
       
       Dieser Roman, diese Geschichte, die „keine gute“ ist, arbeitet mit
       Thrillerelementen, mit Horror und Abstürzen, aber auch mit satirischen
       Analysen neuester Internetformate und mit einer unpathetischen und
       irritiert vorantastenden Liebesgeschichte. Das Überdrehte folgt einem
       genauen Plan. Die Dimensionen, für die die Großmutter Varuna steht, sind
       anfangs kaum zu erahnen.
       
       Vor allem aber beeindruckt die Art und Weise, wie die Protagonistin Arielle
       angelegt ist. Sie ist nach zehn Jahren ihres glitzernden Berufslebens
       zusammengebrochen und in der Psychiatrie gelandet, und sie ist überzeugt
       davon, ihre Agentur- und Instagram-Identität durchaus spöttisch und
       distanziert zu betrachten – aber gleichzeitig ist sie immer noch darin
       gefangen.
       
       Es ist ein vielschichtiges ästhetisches Spiel, wie Arielle in ihren
       Wahrnehmungen ihr eigenes Selbstverständnis immer mehr unterläuft. Mit
       überkommenen Formen von Gesellschaftskritik hat dieser Roman nicht viel zu
       tun. Aber er legt, mit ihren eigenen Mitteln, die Leerstellen der
       hegemonialen Pop- und Vernetzungsindustrien bloß.
       
       16 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.rowohlt.de/buch/lisa-roy-keine-gute-geschichte-9783498003456
   DIR [2] /Ikone-der-Industriekultur/!5166274
   DIR [3] /Kentucky-Fried-Chicken-in-Tibet/!5282406
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Böttiger
       
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