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       # taz.de -- Urteil zu Gefangenenvergütung: Was Häftlinge verdienen
       
       > Ist es angemessen, für einen Stundenlohn von 1,78 Euro arbeiten zu
       > müssen? Am Dienstag entscheidet Karlsruhe über eine Klage von Häftlingen.
       
   IMG Bild: Schreinerei in der Justizvollzugsanstalt Sehnde bei Hannover
       
       Straubing taz | Der Besuchsraum in der Justizvollzugsanstalt Straubing ist
       gelb gestrichen. Ein heller Tisch, zwei Stühle. Das Aprilwetter draußen ist
       nicht zu sehen: Der Raum liegt im Keller, er hat kein Fenster, dafür aber
       zwei Türen. Durch die eine kommt der Besuch durch die andere,
       gegenüberliegende, der Gefangene: Peter R., Glatze, hellgraues Sweatshirt
       und Jeans, trägt eine schwarz umrandete Lesebrille. Er legt einen dicken
       Ordner auf den Tisch. Darin ist der gesamte Schriftverkehr zu seinem
       Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht: Anwaltsschreiben,
       Stellungnahmen.
       
       Am 20. Juni will das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur
       Gefangenenentlohnung verkünden. R., dessen Namen wir seinem Wunsch
       entsprechend abkürzen, ist seit 26 Jahren Strafgefangener in der JVA
       Straubing. 2015 hatte er gegen die niedrige Entlohnung beim Arbeitseinsatz
       in den Gefängnissen geklagt. Das Bundesverfassungsgericht nahm seine Klage
       an, [1][verhandelte aber erst im April 2022 zum Thema]. Noch einmal mehr
       als ein Jahr später ist nun das Urteil fällig. R. hat schon einige
       Rechtsstreitigkeiten vor das Bundesverfassungsgericht gebracht, mehrere
       auch gewonnen. Noch nie habe das Gericht so lange für eine Entscheidung
       gebraucht, beklagt er.
       
       Der lange Zeitraum zwischen Annahme der Klage und der Urteilsverkündung am
       Dienstag hat aber wohl auch damit zu tun, dass ein möglicher Erfolg der
       Klage – neben R. hat noch ein Strafgefangener aus NRW geklagt – sehr
       weitreichende Auswirkungen haben würde: Es müssten die Löhne aller rund
       42.000 Strafgefangener in Deutschland angehoben werden.
       
       R., heute 62 Jahre alt, wird 1997 nach einem Gewaltverbrechen zu
       lebenslanger Haft verurteilt und landet im Gefängnis in Straubing. Ob er
       arbeiten will oder nicht, wird er nicht gefragt. Im Gefängnis ist Arbeit
       Pflicht. Das Grundgesetz erlaubt Zwangsarbeit für Gefangene (siehe
       Infokasten).
       
       ## Viele Aufgaben sind körperlich anstrengend
       
       Jobs gibt es viele: Die Gefangenen waschen, putzen und schrubben die Böden.
       Oder sie arbeiten in einem gefängniseigenen Betrieb: Schreinerei,
       Schlosserei, Polsterei. Auch externe Unternehmen lassen im Gefängnis
       arbeiten. Innerhalb der Mauern stehen große Fabrikhallen, die Häftlinge
       müssen nur wenige Schritte gehen. Die meisten Aufgaben sind einfach, viele
       körperlich anstrengend. Schrauben sortieren, lange und schwere Seekabel
       auseinandernehmen, um sie zu recyclen. Herausfordernder sind Jobs, bei
       denen Einzelteile für Maschinen hergestellt werden. Da heißt es fräsen,
       schweißen – Präzisionsarbeit.
       
       Dafür bekommen die Gefangenen durchschnittlich 14,21 Euro pro Tag. Gering
       qualifizierte Arbeiten werden in Bayern mit 1,33 Euro pro Stunde vergütet.
       Die bestbezahlten Jobs, beispielsweise in der Schreinerei, bringen 2,22
       Euro pro Stunde ein. Die Sätze sind in den Strafvollzugsgesetzen der
       Bundesländer festgeschrieben. Sie sind auf neun Prozent des
       Durchschnittsverdiensts der regulären Beschäftigten außerhalb der
       Gefängnismauern festgelegt. Man spricht vom sogenannten Ecklohn (siehe
       Infokasten).
       
       Tariflohn, Mindestlohn, Branchenmindestlohn – das gilt für Gefangene nicht.
       [2][Arbeit in Haft gilt nicht als Arbeit im klassischen Sinne]. Regelmäßig
       führen Politik und Gericht an, Arbeit sei ein Mittel der Resozialisierung.
       Gesetzlich festgeschrieben ist das aber nirgends; geregelt ist nur die Höhe
       der Vergütung.
       
       R.s erster Job ist bei einer Fremdfirma namens MTU. Die Gefangenen stellen
       Teile her, die für Turbinen gebraucht werden. Anlernen musste man R. kaum.
       Nach der Schule hatte er Kfz-Mechaniker gelernt. Schweißen und montieren,
       das kann er. R. stellt Laufscheiben her, 80 Zentimeter Durchmesser, mit den
       Händen zeigt er den ungefähren Umfang. Die Halle, so erinnert sich R., ist
       etwa 50 mal 20 Meter groß. Darin stehen rund 20 Maschinen, an denen bis zu
       130 Männer arbeiteten.
       
       1998, R. war gerade mal ein Jahr im Gefängnis, wurde der Grundstein für
       seine spätere Klage gelegt: Das Bundesverfassungsgericht urteilte damals
       schon einmal zur Gefangenenentlohnung. Die betrug seit 1977 fünf Prozent
       des Durchschnittslohns. Das Gericht entschied, dass die Arbeitspflicht
       grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Allerdings erfordere das
       sogenannte Resozialisierungsgebot eine „angemessene Anerkennung“ von
       Gefangenenarbeit. Die fünf Prozent reichten dafür nicht.
       
       ## Die Sätze sind trotz Erhöhung zu gering
       
       Der Bund – der damals noch die Gesetzgebungskompetenz für den Bereich
       Justiz innehatte – war damit gerichtlich angehalten, die Löhne zu erhöhen.
       Eine konkrete Zahl nannte das Bundesverfassungsgericht aber nicht. Der Bund
       legte also fest, dass ab 2001 ein Ecklohn von neun Prozent gezahlt werden
       müssen. Außerdem führte er Freistellungstage ein, die Gefangene entweder
       als Hafturlaub nehmen oder um die sie früher entlassen werden können.
       
       Gegen diese Neuregelung legt ein Strafgefangener noch 2001 Beschwerde ein;
       er hält die Sätze weiterhin für zu gering. Doch das
       Bundesverfassungsgericht weist die Klage zurück. Die Neuregelung sei „nicht
       unangemessen“ und „derzeit noch vertretbar“. R. nimmt den Vorgang wahr. Und
       er merkt sich die Formulierung.
       
       Im gleichen Jahr wechselt R. zum ersten Mal den Job. „Ich mochte den Lärm
       und den Schmutz und die irre Lautstärke nicht mehr. [3][Selbst mit
       Gehörschutz war das schwer auszuhalten]“, erzählt R. im Besuchsraum der JVA
       Straubing. Er rollt das „R“ in schönstem Bayrisch, zieht die „A„s zu „O„s,
       bemüht sich, deutlich zu sprechen.
       
       Durch „Vitamin B“ – seinen Vorgänger kannte er vom gemeinsamen
       Schachspielen – wechselt R. in einen ganz anderen Bereich. Er wird
       Schulschreiber, als solcher verfasst er in Absprache mit der JVA-Leitung
       Aushänge und wird Redakteur einer Schachzeitung. Nach drei Jahren wieder
       ein Wechsel: Nun fräst er für den gefängniseigenen Betrieb EDV-Möbel Holz
       für Tische, Stühle und Schränke, die in Gerichten und Gefängnissen
       aufgestellt werden. Auch hier bleibt er drei Jahre. Mittlerweile ist es
       2007, R. sitzt seit zehn Jahren ein. Von da an arbeitet er nur noch
       sporadisch.
       
       ## Mal einen Joghurt oder Apfel kaufen
       
       Trotz der Arbeitspflicht geht das. In der JVA Straubing gibt es rund 800
       Inhaftierte, aber nur 570 Arbeitsplätze. Wer sich also nicht aktiv um
       Arbeit bemüht, wird nicht unbedingt herangezogen. Dennoch wollen die
       meisten Gefangenen arbeiten. In Straubing, genauso wie in den vier
       Bundesländern Sachsen, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Saarland, in denen
       Arbeit seit 2013 keine Pflicht mehr ist. Warum? Um sich zu beschäftigen,
       mal aus der Zelle rauszukommen, auch wenn es nur die wenigen Schritte zur
       Fabrikhalle sind.
       
       Und weil es für die meisten die einzige Möglichkeit ist, an Geld zu kommen.
       So können sie im Knastladen Tabak, Süßigkeiten oder mal einen Joghurt oder
       Apfel kaufen. Beim Anstaltskaufmann, [4][in fast allen JVAen in Deutschland
       ist das die Firma Massak aus Bamberg], können die Insassen Brot, Margarine
       und Käse kaufen. Doch das ist teuer, und durch die Energiekrise und
       Inflation nach dem russischen Angriffskrieg haben die Preise eher nochmal
       angezogen.
       
       Wichtiger ist aber ein anderes Thema. „So gut wie alle Gefangenen haben
       Schulden“, sagt R. Die meisten basieren auf den Kosten der
       Gerichtsprozesse, aus denen sie als Beschuldigte hervorgegangen sind: zum
       Beispiel für Anwaltskosten und Entschädigungszahlungen für Opfer. R. selbst
       kam mit knapp über hunderttausend D-Mark Miese in den Knast.
       
       2013, R. ist seit 16 Jahren im Gefängnis, wird R. schließlich mal wieder
       einer Arbeit zugewiesen, dieses Mal in der Wäscherei. Vom Lohn einer
       Arbeitsstunde kann er sich gerade mal eine Packung Salami beim
       Anstaltskaufmann leisten. Im Hinterkopf hat er noch den Satz des
       Bundesverfassungsgerichts von 2001 zur Erhöhung der Gefangenenentlohnung:
       „Die Entscheidung des Gesetzgebers erweist sich als derzeit noch
       vertretbar.“ Im gleichen Schriftsatz nannte das Gericht die Erhöhung von
       fünf auf neun Prozent als „noch verfassungsgemäß“. Noch.
       
       Und jetzt, 15 Jahre später? Für R. ist das Wörtchen „noch“ eine Einladung.
       Er hat mittlerweile mehrere Verfahren gewonnen, zu ganz unterschiedlichen
       Themen, auch vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen
       Gerichtshof für Menschenrechte. Der Freistaat Bayern musste R. zuletzt
       12.000 Euro Entschädigung wegen unzulässiger Durchsuchungen zahlen.
       
       ## Die wenigsten Anträge führen zum Erfolg
       
       Durch den Fall hat er gelernt, dass die Anstalt, dass der Gesetzgeber,
       Unrecht haben können und dass er gewinnen kann. Er sagt sich: „Wenn der
       Lohn vor 15 Jahren ‚noch verfassungsgemäß‘ war und seitdem nicht erhöht
       wurde, dann ist er heute sicher nicht mehr verfassungsgemäß.“ Und, so
       erinnert er sich bei dem Treffen im Besuchsraum der JVA Straubing: „Dann
       habe ich einen 109er geschrieben.“
       
       Gefangene können, wenn sie ein Gespräch mit dem Abteilungsleiter, dem
       Gefängnisseelsorger oder der Ärztin bekommen möchten, wenn sie Papier haben
       wollen, neue Seife brauchen oder an einem Gruppenangebot teilnehmen
       möchten, einen sogenannten Vormelder schreiben: eine Art Antrag an die
       Anstaltsleitung. Wenn sie mit dem Ergebnis unzufrieden sind, dann können
       sie einen „Antrag auf gerichtliche Entscheidung“ stellen, einen sogenannten
       109er. Das bezieht sich auf Paragraf 109 im Strafvollzugsgesetz. Damit
       können Gefangene beantragen, dass ein Gericht die Anstaltsleitung zu einem
       bestimmten Verhalten verpflichtet. Die wenigsten Gefangenen machen davon
       Gebrauch. Und die wenigsten Anträge führen zum Erfolg.
       
       Einen 109er können Gefangene nur zu einem Vorgang schreiben, von dem sie
       selbst betroffen sind. R. wurde nach 2007 noch zweimal eine Tätigkeit
       zugewiesen, jeweils für kurze Zeit. „Das war im Grunde genommen gut, denn
       nur durch die Zuweisung einer Beschäftigung war ich betroffen, und nur als
       Betroffener – weil ich gearbeitet habe – konnte ich Verfassungsbeschwerde
       einlegen“, sagt R. „Andernfalls hätte es diese Beschwerde nie gegeben.“
       
       R. schreibt am 18. Juni 2013 also einen 109er und beschwert sich damit vor
       dem zuständigen Landgericht Regensburg über die Entlohnung in der JVA
       Straubing. Das Gericht weist die Klage ab; R. wendet sich ans
       Oberlandesgericht in Nürnberg. Auch das lehnt die Klage ab. Die Entlohnung
       sei rechtmäßig. Für R. verstößt sie gegen das Grundgesetz. Wie soll der
       Gefängnisaufenthalt der Resozialisierung dienen, wenn man so wenig
       verdient, dass man auch bei Entlassung noch in Schulden ertrinkt? Er wendet
       sich ans Bundesverfassungsgericht.
       
       Auch das lehnt R.s Klage ab – ohne Begründung. R. hält es für Willkür. Zwei
       Jahre später wird er noch einmal einer Arbeit zugewiesen. Er schreibt
       wieder einen 109er wegen der niedrigen Entlohnung. Sein Antrag geht den
       bereits bekannten Weg. Doch jetzt ist der Ausgang ein anderer.
       
       Am 11. November 2016 erhält R. Antwort vom damaligen Chef des
       Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, sie liegt der taz vor. Der
       schreibt: „Ihre Verfassungsbeschwerde habe ich dem Bayerischen
       Staatsministerium der Justiz, dem Bayerischen Landtag, allen
       Länderregierungen, dem Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung
       (dem Bundeskanzleramt, dem Bundesministerium des Inneren und dem
       Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz) sowie dem
       Bundesarbeits- und Bundessozialgericht zugeleitet und Gelegenheit zur
       Stellungnahme bis zum 31. März 2017 gegeben.“ Voßkuhle listet noch weitere
       Institutionen auf, die sich äußern sollen: [5][Gewerkschaften],
       Arbeitgeberverbände, Rentenversicherung, Anstaltsleitungen und
       Gefangenenhilfsorganisationen.
       
       ## Erstmal passiert lange gar nichts
       
       „Die Klage wurde spektakulär angenommen“, sagt R. im Straubinger
       Besuchsraum. „Ich war selbst ein wenig überrascht. Da kriegt also irgendein
       Knacki vom Verfassungsgericht dieses Schreiben mit dieser grandiosen
       Aufzählung – das fand ich schon beeindruckend, so ein Schriftstück zu
       bekommen.“ R. spricht schnell und aufgeregt, ganz so, als erlebe er alles
       noch einmal. Er blättert in seinem Ordner und sucht die Stellungnahmen
       heraus, die nach und nach eingetrudelt sind.
       
       Nachdem er die erhalten hat, passiert erst einmal lange nichts. Erst 2022
       setzt das Bundesverfassungsgericht eine Verhandlung zum Thema an. Es
       bezieht sich neben der Beschwerde von R. auf die zweier weiterer
       Gefangener, einer aus Nordrhein-Westfalen, der andere aus Sachsen-Anhalt.
       Letzterer zieht seine Beschwerde noch vor Beginn der Verhandlung zurück.
       Mehr als ein Dutzend Sachverständige werden geladen, darunter
       Anstaltsleiter*innen, Kriminolog*innen, Vertreter*innen der
       Justizministerien der Länder, in denen die Kläger inhaftiert sind, sowie
       der Sprecher der Gefangenengewerkschaft GG/BO.
       
       Die Kläger sind bei der Verhandlung nicht anwesend. Das Gericht hat sie
       nicht offiziell geladen. R. will dennoch nach Karlsruhe fahren, doch die
       JVA Straubing lässt ihn nicht gehen. Als seine Prozessbevollmächtigte sitzt
       stattdessen die Juristin Christine Graebsch im Gericht. Bis dahin hatte R.
       das Verfahren selbst geführt. Im Bundesverfassungsgericht ist eine
       rechtliche Vertretung aber vorgeschrieben.
       
       Das Gericht verhandelt am 27. und 28. April 2022. „Allein dadurch, dass
       zwei Tage für die Verhandlung angesetzt wurden, wurde sehr deutlich, dass
       das Bundesverfassungsgericht das Thema ernst nimmt“, sagt Graebsch der taz
       am Telefon. Auch das Medieninteresse ist groß. In der Verhandlung habe sich
       gezeigt, dass die acht Richter*innen sich „ernsthaft Gedanken“ gemacht
       hätten, ohne sich in die eine oder andere Richtung festzulegen.
       
       Die taz schreibt über die Verhandlung, die Vertreter der Länder Bayern und
       NRW hätten „die Mickerlöhne“ verteidigt: Die Produktivität von
       Strafgefangenen liege im Schnitt nur bei 15 bis 20 Prozent normaler
       Beschäftigter. Ihre Qualifikation sei gering; [6][viele Insassen hätten
       Suchtprobleme und psychische Krankheiten]. Zudem hätten die Gefangenen
       schließlich keine Ausgaben für Unterkunft und Verpflegung. Aus Bayern hieß
       es: „Wir verdienen nichts an der Arbeit der Strafgefangenen. Im Gegenteil.
       Die Einnahmen aus der Arbeit im Gefängnis decken nur 7 Prozent der Kosten
       des Strafvollzugs.“
       
       Manuel Matzke von der Gefangenengewerkschaft GG/BO, der selbst einmal
       inhaftiert war, sagt der taz später am Telefon: „Ich kenne keinen
       Gefangenen, der zufrieden ist mit der Bezahlung.“ Er spricht von
       „Ausbeutung“. Externe Unternehmen nutzten Gefängnisse als „verlängerte
       Werkbank“. Für sie seien Haftanstalten „Billiglohninseln“, sie
       beschäftigten dort eine „industrielle Gewerbearmee“, für deren Löhne sie
       nicht einmal Sozialabgaben zahlen müssten. Das Recherchenetzwerk Correctiv
       veröffentlichte 2021 eine Liste von rund 90 Unternehmen, die in
       Gefängnissen produzieren lassen. Correctiv listet Autobauer wie VW auf,
       aber auch die Kinderbadespaß-Firma Tinti und die Rügener Insel-Brauerei.
       
       ## Ehrliche Arbeit wird nicht ausbezahlt
       
       Arbeit im Gefängnis gilt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von
       1998 nur dann als Resozialisierungsmaßnahme, wenn die Gefangenen dadurch
       „angemessene Anerkennung“ finden. Der Gefangene müsse „den Wert
       regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortetes und straffreies
       Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils“ sehen. Kann er oder sie
       das bei einem Stundenlohn von 1,78 Euro sehen?
       
       Für Matzke ist klar: „Die Vergütung zeigt, dass sich ehrliche Arbeit nicht
       ausbezahlt.“ Die GG/BO fordert den gesetzlichen Mindestlohn für Gefangene
       und die Anerkennung als ganz normale Arbeit. Außerdem will sie ein Ende der
       Arbeitspflicht. Die Gefangenen sollen selbst entscheiden können, wie sie
       ihre Lebenszeit verbringen wollen. Zu einer erfolgreichen Resozialisierung
       gehöre es, Eigenständigkeit zu fördern.
       
       „Dafür muss man aus intrinsischer Motivation heraus arbeiten, nicht
       aufgrund von Zwang“, sagt Matzke. Er kritisiert darüber hinaus, dass
       Gefangene nach der Entlassung zwar ein Anrecht auf Arbeitslosengeld haben,
       sie mit ihrer Arbeit im Gefängnis aber nicht in die Rentenkasse einzahlen
       können. So sei [7][Altersarmut vorprogrammiert].
       
       Für Graebsch zeigt das auch, „dass Arbeit im Vollzug mit Resozialisierung
       nichts zu tun hat, wenn ich jahrzehntelang arbeite, und ich komme raus und
       mir geht es schlechter als vorher“. Also müssten Gefangene Rentenansprüche
       sammeln können – und mehr verdienen. „Es gibt kein
       Resozialisierungskonzept, das so eine niedrige Entlohnung vorsieht.“
       
       Damit Arbeit tatsächlich als Resozialisierungsmaßnahme funktioniert, müsse
       es zudem andere Angebote geben und Gefangene müssten wählen können, was sie
       arbeiten. „Es ist nicht egal, was man arbeitet. Im Vollzug gibt es fast nur
       Jobs, die überhaupt keinen Nutzen für das Leben danach haben.
       Kugelschreiber zusammenstecken bringt überhaupt nichts.“ Dabei würden
       Menschen seltener rückfällig, wenn sie einen sinnerfüllten Job ausüben.
       Graebsch fordert außerdem, dass es für die Strafgefangenen mehr
       Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten gibt und die Gelegenheit,
       Schulabschlüsse zu machen.
       
       Am Dienstag soll nun das Urteil des Bundesverfassungsgerichts fallen. Die
       zwei Verhandlungstage im April 2022 haben keine Hinweise gegeben, wie die
       Entscheidung der Richter*innen ausfallen wird. Auch ein Jahr später ist
       keine Tendenz erkennbar. „Das ist wie ein Blick in die Glaskugel“, sagt
       Manuel Matzke. Dass das Gericht eine Reform fordern wird, hält Matzke
       allerdings für sicher. Auch die Juristin Graebsch sagt: „Die
       Wahrscheinlichkeit einer irgendwie positiven Entscheidung ist hoch, aber
       völlig unklar ist, in welche Richtung diese gehen wird.“
       
       ## Haftkosten zahlen, aber dafür höheren Lohn
       
       Möglich wäre, dass das Bundesverfassungsgericht sich am österreichischen
       Modell orientiert. Dort bekommen Inhaftierte einen höheren Lohn, müssen
       davon aber einen Teil der Haftkosten zahlen. Für Graebsch, die auch
       Professorin an der Fachhochschule Dortmund ist, entspricht das dem Prinzip
       „rechte Tasche, linke Tasche“. Sie sagt: „Ein winziges bisschen besser ist
       es mit Sicherheit, wenn man mehr verdient und dadurch mehr Anerkennung
       erhält und individueller entscheiden kann, was man davon bezahlen möchte.“
       Aber letzten Endes sei „das alles keine echte Veränderung, wenn nicht am
       Ende wesentlich mehr Geld bleibt als jetzt“.
       
       R. hat jedenfalls eine klare Vorstellung davon, wie das Urteil ausfallen
       soll. Er will eine „deutliche“ Erhöhung des Ecklohns von bisher neun
       Prozent auf 15 Prozent – also etwa zwei Drittel mehr als jetzt. Das wären
       statt des bisherigen Durchschnittslohns von rund 14 Euro am Tag künftig
       23,30 Euro. Mehr, aber immer noch wenig.
       
       Warum er nicht mehr fordert, einen Ecklohn von 30, 40 oder gar 50 Prozent?
       „Das ist völlig unrealistisch“, sagt R. Allein bei einer Erhöhung von 9 auf
       15 Prozent gehe es um mehrere Millionen Euro: „Das sind keine Peanuts.“ R.
       hat noch eine zweite Forderung. „Ich habe beantragt, die
       Gefangenenentlohnung rückwirkend zum 29. September 2015 zu erhöhen.“ Das
       wären noch einmal mehrere Millionen Euro mehr.
       
       Ob die Richter der Forderung nachkommen werden? Wenn nicht, will R.
       weiterkämpfen – und vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
       ziehen.
       
       19 Jun 2023
       
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   DIR Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns: Für ein paar Cent mehr
       
       Der Mindestlohn steigt 2024 nur um 41 Cent – trotz Inflation. Die
       Gewerkschaften melden Protest an. Die Linkspartei nennt es „eine
       Katastrophe“.
       
   DIR Anpassung des Mindestlohns: Es muss in Richtung 14 Euro gehen
       
       Unter der hohen Inflation leidet vor allem der Niedriglohnsektor, die
       soziale Spaltung wächst. Es braucht eine deutliche Anpassung des
       Mindestlohns.
       
   DIR Arbeitsberatungsstelle in Berlin: Gute Arbeit hat einen Preis
       
       Im Sozialbereich drohen Kürzungen von 30 Prozent. Das könnte auch die
       Beratungsstelle für Migration und Gute Arbeit (Bema) betreffen.
       
   DIR Urteil zu Gefangenenvergütung: Ohne Geld keine Verantwortung
       
       Gefangene arbeiten für Minilöhne. Karlsruhe erklärt das für zwei Länder als
       verfassungswidrig. Diese müssen nun „widerspruchsfreie“ Regelungen
       vorlegen.
       
   DIR Entschädigung von SED-Opfern: Arm nach Zwangsarbeit im DDR-Knast
       
       Politische Gefangene in der DDR leisteten oft Zwangsarbeit. Aber sie werden
       kaum entschädigt, kritisiert die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke.
       
   DIR Gehalt für Arbeit im Gefängnis: Hinter Gittern wahre Mickerlöhne
       
       Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über Entlohnung von
       Strafgefangenen. Vielleicht bekommen sie künftig mehr Geld – um mehr
       abgeben zu können.
       
   DIR Häftlinge fordern Anrecht auf Telefonate: Dünner Draht in die Außenwelt
       
       Gefangene sind auf Telefonate angewiesen, um den Kontakt zu ihren Familien
       nicht zu verlieren. Bayern erlaubt das nur in „dringenden Fällen“.