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       # taz.de -- Koloniale Vergangenheit des Empire: Gegen den Wind
       
       > Vor 75 Jahren kamen die ersten karibischen Migranten auf dem Schiff
       > „Windrush“ nach England. Der Kampf um Aufarbeitung ist bis heute ein
       > widerständiger.
       
   IMG Bild: Ankunft im „Mutterland“: Karibische Migranten in der Waterloo Station, London 1962
       
       London taz | Eine Parterrewohnung nahe dem Londoner Bahnhof Kings Cross im
       Frühjahr diesen Jahres. Eric John Welch sitzt mit alten Freunden zusammen,
       es ist sein 90. Geburtstag. Die kleine Gruppe trinkt Guinness und spricht
       in karibischem Englisch über Politik, über alte Zeiten – und über ein
       bewegtes Leben, das von Eric, in dem sich ein Stück Empiregeschichte
       widerspiegelt, bis heute sehr kontrovers diskutiert wird.
       
       Eric kam 1933 auf die Welt, auf der Karibikinsel Montserrat, wo sein Vater
       aus Trinidad gerade Arbeit als Zimmermann hatte. Die meisten Kindheitsjahre
       verbrachte er in Trinidads Hauptstadt Port of Spain. „Es war ein Zuhause in
       ärmlichen Verhältnissen“, erinnert sich der 90-Jährige. „Wir Kinder
       schliefen gemeinsam in einem Zimmer auf dem Boden, auf alte Kleider
       gebettet. Wir ernährten uns von Fisch sowie Gemüse und Früchten aus unserem
       Garten. Hühnchen war eher ein Weihnachtsschmaus.“ Ein Zeitvertreib bestand
       aus Cricketspielen. „Wir benutzten Orangen und Brotbaumfrüchte statt
       Bälle.“
       
       Als er zwölf Jahre alt war, begann Eric zu singen. „Eine Frau aus der
       Nachbarschaft bezahlte mich, [1][wenn ich Calypso vorsang].“ Durch seine
       ständigen Besuche des Stadtkinos lernte er später Projektionstechnik.
       Nachdem sein Vater Arbeit auf Schiffen gefunden hatte, zog es auch ihn in
       Richtung Hafen. Eines Tages baten er und ein Freund die Crew des Frachters
       „SS Sugar Transporter“ um einen Job. Die Crew lehnte ab, doch Eric und sein
       Freund blieben als blinde Passagiere an Bord. Das Schiff stach in See.
       
       ## Ins Herz des Empires
       
       Der nächste Hafen, den das Schiff anlief, war Barbados. „Wir wollten jetzt
       wieder von Bord gehen, doch in Barbados durfte niemand das Schiff
       verlassen.“ Der nächste Halt, ganze zwei Wochen später: London.
       
       An seinem 19. Geburtstag ging Eric in der Hauptstadt des Empires von Bord,
       am 12. Juni 1952. Erst musste er sich neu einkleiden, denn er besaß einzig
       die Hose und das Hemd, mit denen er in Trinidad das Schiff bestiegen hatte.
       Nach der Registrierung beim sogenannten Kolonienbüro ging es zum
       Arbeitsamt. „Sie schickten mich in ein Kino nach Peckham Rye“, erinnert
       sich Eric. Dort, im Süden Londons, hätten ihn die Leute angegafft, als
       hätten sie noch nie einen Menschen wie ihn gesehen: einen Schwarzen.
       
       Der Lohn war schlecht, bald arbeitete Eric wieder auf Schiffen und reiste
       um die Welt. Als er einmal zufällig kurz in Trinidad landete, erschien ihm
       die Inselwelt seiner Kindheit sehr klein. „Ich entschied mich, für immer
       nach London zu ziehen“, erzählt er heute im Rückblick.
       
       Beim zweiten Anlauf in London lief es für den jungen Mann besser. Durch
       Zufall kam Eric an einen sehr gut bezahlten Job: Hausmeister bei der
       Versicherung Legal & General. Zur selben Zeit entwickelte sich eine
       Freundschaft zwischen ihm und der Calypsolegende Lord Kitchener. Als er
       sich daran erinnert, in seiner Parterrewohnung an seinem Geburtstag, singt
       er gleich zwei Lieder von „Kitch“: „Nora“, und „Underground Train.“
       
       ## Der Soundtrack der Generation
       
       Lord Kitchener war der Künstlername des trinidadischen Sängers Aldwyn
       Roberts, einer der bekanntesten Musiker der britischen Karibik in den
       1940er Jahren. Kitch gehörte zu der legendären allerersten Gruppe
       karibischer Arbeitsmigranten, die am 22. Juni 1948, am Donnerstag vor genau
       [2][75 Jahren, an Bord der „Empire Windrush“], aus Jamaika im Hafen von
       London landete und die Schwarze Migration nach Großbritannien begründete.
       Am diesjährigen „Windrush Day“ will man die „Windrush Generation“ würdigen.
       
       „London Is The Place For Me“ hieß das Lied von Kitch, das diese gesamte
       Generation definierte und das der Sänger damals der britischen Wochenschau
       vortrug, als am 22. Juni 1948 in den Tilbury Docks 1.027 Passagiere von
       Bord gingen. Dort hatte das Schiff, die „Empire Windrush“, am Vortag
       festgemacht. Eigentlich sollte das ehemalige Passagierschiff Soldaten aus
       dem Heimaturlaub nach Großbritannien bringen. Aber weil noch Plätze frei
       waren, wurden in Jamaika Billigfahrten nach England angeboten, wo ein neues
       Gesetz gerade allen Bürgern britischer Kolonien die volle britische
       Staatsbürgerschaft in Aussicht stellte.
       
       Sie kamen in ihren besten Anzügen und Kleidern, 1.027 Menschen, darunter
       257 Frauen, die ersten einer zwei Jahrzehnte dauernden karibischen
       Einreisewelle, die als Windrush Generation in die Geschichte eingehen
       sollte. Insgesamt kamen danach eine knappe halbe Million Menschen – bis
       1973 mit dem britischen Eintritt in die Europäische
       Wirtschaftsgemeinschaft, Vorläufer der EU, ein neues, restriktives
       Einwanderungsgesetz dem ein Ende setzte. Bis dahin konnten die meisten
       Bewohner ehemaliger britischer Kolonialgebiete, nicht nur aus der Karibik,
       ohne große Formalitäten ins „Mutterland“ einreisen und sich dort
       niederlassen. Sie wurden zum Wiederaufbau Großbritanniens nach dem Krieg
       offensiv angeheuert, unter ihnen zahlreiche Kriegsveteranen.
       
       ## Fremd in Motherland
       
       Das Wort „Mutterland“ hat für Schwarze Menschen karibischen Hintergrunds in
       Großbritannien eine doppelte Bedeutung. Es ist nicht nur das Land, dessen
       koloniale Bürger sie waren. Es ist auch das Land, das einst ihre
       afrikanischen Vorfahren versklavte und über den Atlantik auf die West
       Indies brachte, um dort von ihrer Arbeit auf den Zuckerplantagen zu
       profitieren. Der Reichtum Großbritanniens, wie auch ganz Europas, hängt
       direkt mit dieser Sklaverei zusammen.
       
       Als sie ab 1948 im „Mutterland“ landeten, definierten sich diese Migranten
       als britisch. Aber sie stießen immer wieder auf Rassismus, sowohl bei der
       Arbeits- als auch bei der Wohnungssuche. Traurige Berühmtheit erlangten die
       Verbotsschilder „Keine Schwarzen, Iren und Hunde“. Diskriminierung und
       Hetze gegen Schwarze, auch in der Schule und seitens der Behörden, war im
       Großbritannien der 1950er und 1960er Jahre normal.
       
       Die karibische Gemeinde erwiderte dies mit Selbstbehauptung. Nach einem
       brutalen rassistischen Mord 1959 entstand im Westlondoner Viertel Notting
       Hill der erste karibische Karneval, damals ein Manifest Schwarzer
       Gegenkultur, heute das größte multikulturelle Straßenfest Europas. In
       britischer Musik und Kultur sind karibische Einflüsse heute nicht mehr
       wegzudenken, und auch nicht aus dem Straßenbild Londons.
       
       Auf einem Foto aus den ersten Jahren der Einwanderung sieht man Eric im
       maßgeschneiderten Anzug mit elegantem Hut. Bis heute hat er eine ganze
       Kollektion von Hüten. Es waren die Jahre, in denen er in die Jazz- und
       Tanzlokale Londons pilgerte, wo er 1956 Margaret kennenlernte, eine junge
       Schottin, „die so tanzte, wie sonst niemand“. Die beiden lebten zusammen
       bis zu Margarets Tod im Jahr 2008.
       
       Rassismus habe er nie wirklich erfahren, behauptet Eric zunächst. Auf
       Nachfrage erinnert er sich dann aber doch an einiges: Wie ihn 1953 ein
       Polizist auf der Straße fragte, wo er hingehe. „Als ich fragte, ob es ein
       Verbrechen sei, auf der Straße zu gehen, nahm er mich auf die Wache, wo mir
       der Wachtmeister ins Gesicht spuckte“, erzählt er. Auch an die Teddy Boys,
       eine junge, weiße Arbeitersubkultur der 1960er Jahre, erinnert er sich. Die
       Teddy Boys gingen gerne auf Schwarze los. „In dieser Zeit liefen wir nie
       alleine auf der Straße, sondern immer zusammen mit anderen“, sagt Eric.
       „Die Teddy Boys waren nämlich nur im Pack mutig!“
       
       Sein Freund Andy, der 1966 nach England kam, bestätigt den bis heute
       aktenkundigen Rassismus in der Londoner Polizei. „Die Polizei wollte uns
       immer provozieren, um uns eine Extrabehandlung zu geben, wenn wir
       reagierten.“ Ob es heute besser sei? Nein, ist sich die gesamte Gruppe
       einig – aber anders. Die Polizei gehe gegen Schwarze immer härter vor als
       gegen andere.
       
       ## Titanen ebnen den Weg
       
       Gegen all diese Widrigkeiten behaupteten sich jene, die damals kamen. Der
       bekannte DJ Trevor Nelson, seine Familie stammt aus St. Lucia, bezeichnet
       die Windrush Generation als „Titanen“, die durchhielten, um der nächsten
       Generation den Weg zu ebnen. Viele arbeiteten im öffentlichen Dienst, meist
       in den am geringsten geschätzten Jobs. Manchen gelang der Einstieg in
       Wissenschaft und Politik, in den Spitzensport oder sie machten als Künstler
       von sich reden.
       
       All dies schafften sie trotz anhaltender [3][Diskriminierung]. Schwarze
       Briten laufen laut Studien unter anderem des National Health Service
       3,7-mal öfter als Weiße Gefahr, wegen des Verdachts der psychischen Störung
       der Freiheit beraubt und zwangseingewiesen zu werden. 45 Prozent der
       karibischen Schwarzen verzeichnen chronische Gesundheitsbeschwerden. Beides
       sind die höchsten Werte im Vergleich aller ethnischen Gruppen.
       
       Auch in anderen soziografischen Datenanalysen schneiden karibische Schwarze
       schlechter ab als alle anderen ethnischen Gruppen, auch als afrikanische
       Schwarze. Nur durchschnittlich 3 Prozent aller Jugendlichen
       „afrokaribischen Hintergrunds“ erreichten in den Jahren 2010 bis 2016 ein
       Abitur mit Höchstnote. Die Rate der von der Polizei angehaltenen und
       durchsuchten Personen ist in der Kategorie „Afro-Caribbean“ 9,6-mal höher
       als bei Weißen, zeigen Daten des britischen Innenministeriums. Außerdem
       sind 3 Prozent der britischen Bevölkerung Schwarze – aber sie stellen 13
       Prozent der Gefängnisinsassen. Nach polizeilicher Festnahme ist die
       Wahrscheinlichkeit zu sterben für Schwarze siebenmal höher als für Weiße.
       
       Demgegenüber stehen Menschen afrikanisch-karibischer Abstammung heute beim
       Einkommen an dritter Stelle hinter Weißen und Menschen indischer
       Abstammung. Frauen karibischer Abstammung haben weiße Frauen bereits in den
       1970er Jahren überholt – Männer taten sich schwerer.
       
       ## Illegal, nach einem halben Jahrhundert im Land
       
       Vielen Schwarzen mit karibischem Hintergrund geht es heute um mehr als
       darum, diese Statistiken zu diskutieren. Es geht um das, was der
       jamaikanische Intellektuelle Stuart Hall einst als „Amnesie der Geschichte“
       beschrieb: das Schöndenken des Empires. Anders als Flüchtlinge oder
       Gastarbeiter kamen die Menschen aus der Karibik aus eigener Sicht nicht als
       Fremde nach Großbritannien, die sich dankbar zu zeigen hätten. Sie kamen
       mit der Erwartung, als britisch und ebenbürtig angesehen zu werden. Aber in
       der britischen Kultur und auch im Schulunterricht gibt es herzlich wenig,
       das dies reflektiert. Die Geschichte der Schwarzen bleibe unsichtbar, sagte
       Hall. Linton Kwesi Johnson besang es einst in „Inglan is a Bitch“.
       
       Ins Bewusstsein der breiteren britischen Öffentlichkeit gelangte die
       Windrush Generation erst, als sich ab 2018 herausstellte, dass manche von
       ihnen, ohne dies zu wissen, gar keinen gesicherten Aufenthaltsstatus
       hatten. Sie sahen sich ja als Briten. Doch für viele war ihr einziger
       Einreisenachweis nach Großbritannien der Eintrag über ihre Ankunft per
       Schiff. Unter der konservativen Innenministerin Theresa May wurde die Jagd
       auf mutmaßliche illegale Migranten drastisch verschärft und zugleich wurden
       die alten Schiffsregister vernichtet. Bis zu 15.000 karibische Migranten
       wurden daraufhin als Illegale eingestuft, obwohl sie jahrzehntelang
       problemlos in Großbritannien gelebt hatten.
       
       Viele verloren ihre Arbeit, ihre Wohnungen und ihre medizinische
       Versorgung, mindestens 83 wurden sogar abgeschoben. Als dieser
       „[4][Windrush Scandal]“ 2018 in der Presse aufgedeckt wurde, entschuldigte
       sich die britische Regierung, die mittlerweile von Theresa May als
       Premierministerin geführt wurde. Die Regierung leitete eine Untersuchung
       ein und versprach Entschädigung. Auf diese warten viele Betroffene bis
       heute; 23 von ihnen sind vor der Wiedergutmachung gestorben. Für diese
       Generation hat das tiefe Wunden neu aufgerissen.
       
       ## Menschen voller Geschichten
       
       Die alte Generation bleibt heute wieder mit ihren Erinnerungen unter sich.
       Im Pepper Pot Centre in Ladbroke Grove in North Kensington – dort, wo einst
       der Notting Hill Carneval entstand – treffen sich betagte Senior:innen
       der Windrush Generation Tag für Tag seit dem Jahr 1981. Managerin Caroline
       Archer, deren Eltern aus Jamaika und dem Inselstaat Dominica abstammen,
       kann ihren Enthusiasmus für diesen Job nicht verstecken. „Ich sah, wie
       glücklich meine eigene Großmutter hier immer war.“ Es gibt hier karibisches
       Essen, Gesellschaftsspiele werden gespielt.
       
       Hamid Alli, Jahrgang 1935, ist freiwilliger Rezeptionist im Pepper Pot. Er
       erzählt der taz, wie er 1957 nach London zu Tante und Onkel geschickt
       wurde, weil sein Vater mit seiner vorherigen Freundin nicht einverstanden
       gewesen war. Nach dem Studium arbeitete er sich beim Ölkonzern Shell hoch.
       Er erinnert sie, wie eine Gruppe ihm unterstehender Arbeiter sich weigerte,
       ihn als Chef anzuerkennen – weil er Schwarz war. Oder wie er im Ostlondoner
       Stadtteil Leyton ein Haus kaufte – und die Nachbarn begannen, ihre Häuser
       zu verkaufen, weil sie glaubten, dass seine Anwesenheit den Wert ihrer
       Immobilien senkte. „Tatsächlich war ich wohlhabender als sie alle. Ich
       hätte mir mit meinem Shell-Gehalt gleich mehrere der Häuser kaufen können.“
       Später wurde Alli Kameramann bei der BBC und drehte Spielfilme.
       
       Auch der heute 87-jährige Harold Roch hat fesselnde Geschichten zu
       erzählen. Im Jahr 1936 auf der Karibikinsel Montserrat geboren, folgte er
       1961 seinem Bruder nach London. Dort herrschte damals wegen der vielen
       Kohleheizungen Dauersmog – aber es war auch der Beginn der Swinging
       Sixties. „Ich staunte bei meiner Ankunft, wie dreckig London war, ja sogar
       der Buckingham Palace! Und ich staunte über die mir völlig fremden
       moralischen Freiheiten.“
       
       Roch erzählt, wie er sich durch seinen starken Körperbau Respekt
       verschaffte und sich selbst einmal gegen mehrere Polizisten behaupten
       konnte, die in Notting Hill auf einen anderen Schwarzen losgegangen waren.
       „Der Wachtmeister ließ mich später gehen, weil ich ihn davon überzeugen
       konnte, dass zehn Mann gegen ein paar von uns unfair war.“
       
       Velma McClymont, die 1969 als Zwölfjährige mit dem Flugzeug aus Jamaika
       ihren Eltern nach London folgte, hat über die schwarze karibische Erfahrung
       ein Buch geschrieben: das semiautobiografische „Hope Leaves Jamaica“,
       veröffentlicht unter dem Pseudonym Kate Elizabeth Ernest. Der Erfolg des
       Buches führte zu einem verspäteten Studium der Literatur und der
       karibischen Geschichte, bis zur Promotion. Ihr Vater war in Jamaikas
       Hauptstadt Kingston ein gutsituierter Zahnarzt gewesen, „mit schönem Haus
       und Auto mit Chauffeur“.
       
       Als sie selbst nach London kam, war es ein Kulturschock. „In der Schule in
       England spuckten die weißen Mädchen mich an. Selbst die hier geborenen
       Schwarzen Mädchen wollten nichts mit mir zu tun haben, weil ich
       gelegentlich mal einen Begriff auf Patois sprach“, schildert sie. Die
       monatlichen Briefe an ihre Großmutter daheim wurden zum einzigen Trost.
       „Ich wollte eigentlich immer zurück nach Jamaika, doch England hatte den
       Status eines Mutterlandes, an das wir geschichtlich gebunden waren.
       Rückkehrer galten als Versager.“
       
       McClymont boxte sich durch, konfrontierte als Erwachsene sogar furchtlos
       einen rassistischen Nachbarn, der mit einer Schusswaffe auf sie losging,
       wie sie sich erinnert, und arbeitete bei der britischen Zentralbank –
       während ihr Vater erleben musste, dass ihn viele Patienten aufgrund seiner
       Hautfarbe mieden. In den 1970er Jahren wanderte er enttäuscht nach Ghana
       aus.
       
       „Großbritannien leidet an geschichtlicher Amnesie“, sagt die elegant
       gekleidete Frau mit Sonntagshut und Sonnenbrille. „Es waren wir, mit den
       schottischen Nachnamen jener, die uns entführt und misshandelt hatten, die
       Großbritannien mit Blut, Schweiß und Tränen geschaffen haben.“ Das Jamaika
       und Schottland des 18. Jahrhunderts ist das Thema ihres neuesten Romans,
       „Little River“. Von dieser Epoche gebe es eine Kontinuität zum
       weiterbestehenden Rassismus heute, sagt sie, und macht dabei einen
       Unterschied zwischen Menschen mit karibischem Hintergrund und jenen aus
       Afrika, deren Vorfahren nicht versklavt wurden. Der Weg zur
       Selbstbehauptung liege in guter Erziehung, Eigenständigkeit und
       Zielstrebigkeit, sagt sie – und ordert ein gepfeffertes karibisches Essen:
       Curryziege mit Reis und Erbsen.
       
       Eric, das Geburtstagskind, pflegt seit seiner Pensionierung einen
       Kleingarten. Auch sein alter Freund Andy hat einen: Kartoffeln, Rote Bete,
       Bohnen, Mais, Tomaten, Kürbisse wachsen dort. „Meine Knie machen es mir
       sehr schwer, aber mein Motto ist, dass ich mich weiter dazu zwingen muss,
       durchzuhalten.“ Genau das, behaupten viele, sei es, was diese aus der
       Karibik nach Großbritannien ausgewanderten Menschen auszeichne.
       
       Mit seinen 90 Jahren denkt Eric auch über sein Lebensende nach. Seine
       Bestattung hat er schon vorausbezahlt. „Da, wo man stirbt, da kommt man
       her“, meint er. Ist der alte Trinidadier also Engländer? „Ich bin
       Afrikaner!“, behauptet er. „Afrika ist der Kontinent, dem sie uns entrissen
       hatten.“ Aber, gesteht er ein: „Das Leben hier in London war grundsätzlich
       gut. Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich nie geplant hatte,
       hierherzukommen.“
       
       21 Jun 2023
       
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