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       # taz.de -- Pragmatismus und Radikalität: Linke Hasenfüße
       
       > Progressive Regierungen sollen auf die Meinungen der Mehrheit Rücksicht
       > nehmen, heißt es häufig. Doch die sind nicht in Stein gemeißelt.
       
   IMG Bild: „Solange ich da bin, wird rechts regiert“, sagte Bruno Kreisky, hier beim SPÖ-Bundesparteitag am 20.07.1982
       
       Häufig kursieren in den sozialen Medien lustige Memes von der Art: „Viele
       Zitate im Internet sind erfunden (Julius Cäsar)“. Gut, das ist deutlich
       erkennbar erfunden, obwohl auch darauf manche Leute reinfallen. Längst tut
       man sowieso gut daran, allen Zitaten zu misstrauen. Ehrlicherweise muss man
       aber auch einräumen, dass es nicht das Internet gebraucht hat, um
       Falschzitate zu verbreiten. Manchmal hilft das Internet sogar, verfestigtes
       Falschwissen zu untergraben.
       
       Eines meiner Lieblingszitate des großen Ökonomen John Maynard Keynes ist
       seit vielen Jahren: [1][„Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine
       Meinung. Und was machen Sie?“] Leider beging ich unlängst den Fehler, die
       Quelle zu googeln, was in der schockierenden Entdeckung mündete, dass auch
       das ein Falschzitat und nicht von Keynes ist.
       
       Sehr verdient um die Enttarnung von Falschzitaten hat sich der Wiener
       Literaturwissenschaftler und Karl-Kraus-Forscher Gerald Krieghofer gemacht.
       So fand er für ein kursierendes Zitat des legendären sozialistischen
       österreichischen [2][Bundeskanzlers Bruno Kreisky] die Ursprungsquelle in
       einer Ausgabe der Salzburger Nachrichten vom Mai 1976. Der sagte: „Solange
       ich da bin, wird rechts regiert.“
       
       Kreisky, der eine stark selbstironische Seite hatte, meinte damit: Man
       dürfe die Leute nicht mit gesellschaftlicher Progressivität, radikalen
       Plänen und wilder Rhetorik überfordern. Lieber solle man ein gemäßigter
       Sozialist sein, der dafür Mehrheiten hinter sich versammeln kann, als ein
       radikaler Sozialist, der wirkungslos bleibt, weil er keine Wahlen gewinnen
       kann.
       
       Damit hat er radikale ökonomische Forderungen seiner linken Parteifreunde
       gemeint (wie weitgehende Reichensteuern und Verstaatlichungen), aber auch
       gesellschaftspolitische Modernisierungen wie die Frauenemanzipation.
       Kreisky hat beispielsweise die Fristenlösung für den
       Schwangerschaftsabbruch eingeführt, aber im Grunde musste er von den
       kämpferischen Frauen in seiner Partei dazu gezwungen werden. Diese und
       andere progressive Gesetze hatten am Ende viel Unterstützung hinter sich,
       aber Kreisky hätte damit nicht gerechnet.
       
       ## Radikalität und Mäßigung
       
       Ein bisschen Hasenfuß war er schon. Übrigens nicht viel anders als der
       legendäre Anführer der italienischen Eurokommunisten, Enrico Berlinguer.
       Der gewann eine Volksabstimmung über die Fristenlösung, die er eigentlich
       nicht wollte, weil er sicher war, diese niemals gewinnen zu können. Und das
       ist nur ein Beispiel einer einstmals sehr umkämpften
       gesellschaftspolitischen Reform. Man kann hier die vielen anderen
       Thematiken – Diversität einer Zuwanderergesellschaft, moderne
       Staatsbürgerschaftsgesetze, LGBTIQ-Rechte – dazu denken.
       
       Linke Regierungskunst heißt ja, den Königsweg zwischen ambitionierter
       Radikalität und beruhigender Mäßigung zu finden, und dieser Königsweg ist
       leider nicht auf Landkarten verzeichnet. Wenn Robert Habeck anmerkt, wie
       unlängst beim Kölner Philosophie-Festival, dass Ideen untauglicher Schrott
       sind, wenn sie so radikal seien, dass sie politisch nichts nützen, dann ist
       das wie ein moderner Nachklang des Kreisky-Aperçus. Der Realist will seine
       Ansichten so formulieren, dass sie an die vorherrschenden Meinungen in
       einer Gesellschaft zumindest anschlussfähig sind.
       
       Völlige Zustimmung, nur gibt es eine kleine Kompliziertheit:
       „vorherrschende Meinungen“ oder Konventionen sind keine unveränderbaren
       Konstanten. Je furchtsamer man ist, umso weniger wird man sie vielleicht in
       eine progressive Richtung verändern. Auch bei Sozialdemokraten gab es in
       den vergangenen Jahrzehnten starke Stimmen, die drängten, man müsse sich an
       einen konservativen Zeitgeist anpassen, um stärker zu werden, was aber oft
       nur dazu geführt hat, dass die Sozialdemokratie schwächer und der rechte
       Zeitgeist stärker wurde.
       
       Gern wird heute auch angeführt, dass die Progressiven die Wähler:innen
       mit sozialpolitischen und ökonomischen Themen gewinnen können, sie aber
       [3][mit zu viel gesellschaftspolitischem Klimbim oder der Thematisierung
       von Trans-Toiletten] abschrecken würden. Oft unterschätzt man jedoch die
       potenzielle Fortschrittlichkeit einer Gesellschaft, weil man kein präzises
       Bild vom wirklichen Meinungstohuwabohu der Leute hat. Und außerdem haben
       wir jetzt schon ein paar Jahre lang die Erfahrung gemacht: Wenn Linke in
       „die Mitte“ rücken, dann führt das nur dazu, dass sich diese „Mitte“ nach
       rechts verschiebt.
       
       Heute stimmt ja auch die Vorstellung von den „vorhandenen, konventionellen
       Ansichten“, von denen man sich nicht zu weit entfernen dürfe, nur halb. Die
       Ansichten sind nicht „vorhanden“, sondern werden von den extremen Rechten
       in ihrem identitätspolitischen Wahnsinn täglich fabriziert, und die
       Konservativen dackeln ihnen nach. Heute kann schon die wahnhafte Liebe zur
       Ölheizung in religiöses Eiferertum eskalieren. Diese Spinner malen Poster
       gegen „die Heizungs-Ideologie“. Bald beten sie Öltanks an. Wenn man diesen
       Leuten durch „Mäßigung“ oder sonstige Anpassungsleistungen nachgibt, suchen
       sie sich eben ein anderes Kulturkampfthema.
       
       Falsch ist dennoch nicht, dass es Maß und Ziel braucht. Man wird die
       eigenen progressiven Werte erfolgreicher verfechten, wenn man sie in einer
       Sprache vorbringt, die mit dem Alltagsverstand und den Werten breiter und
       verschiedener Milieus und Segmente der Gesellschaft eine Verbindung findet.
       Wer nur für die eigene Peergroup kommuniziert, nur darauf aus ist, in der
       Bubble der sowieso Überzeugten eine Heldin zu sein, wer im Sektenjargon der
       paar Hundert Gleichgesinnten spricht, tut niemandem einen Gefallen – außer
       natürlich der Gegenseite.
       
       Der linke US-Linguist George Lakoff hat einmal eine feine Leitlinie
       formuliert: „Seid authentisch. Steht zu dem, was ihr glaubt. Fühlt euch
       hinein in die Leute, mit denen ihr sprecht, und verbindet euch mit ihnen.“
       
       23 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Olaf-Scholz-und-der-leichte-Linksruck/!5703138
   DIR [2] https://jacobin.de/artikel/wie-die-sozialdemokratie-ihre-sprache-verlor-olof-palme-willy-brandt-bruno-kreisky/
   DIR [3] /Erbauliche-Nachrichten-aus-Oesterreich/!5928561
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Misik
       
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