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       # taz.de -- Erzählungen von Tove Ditlevsen: Regenschirme im Patriarchat
       
       > Mit ihrer autobiografischen Kopenhagen-Trilogie wurde die
       > Schriftstellerin Tove Ditlevsen bekannt. Nun erscheint der Erzählungsband
       > „Böses Glück“.
       
   IMG Bild: Die Autorin in der Kopenhagener City
       
       Tove Ditlevsen schreibt Sätze, die leise daherkommen und umso lauter
       nachhallen. Es ist fast unheimlich, wie verdichtet die dänische
       Schriftstellerin menschliche Seelenlandschaften zu vermessen imstande war.
       In dem nun erschienenen Band „Böses Glück“ mit Erzählungen fällt das etwa
       auf, wenn sie aus der Perspektive von Kindern schreibt.
       
       Eine Story beginnt mit den Worten: „Hanne war erst sieben Jahre alt, trug
       aber schon eine große, formlose Angst in sich. Wenn sie und ihr kleiner
       Bruder, der sich mit glühendem Eifer seinem Spiel widmete, im Kinderzimmer
       saßen, lauschte sie auf die Schritte der Eltern im Untergeschoss und setzte
       alles daran, deren merkwürdiges Gespräch mitzuverfolgen.“
       
       In solchen Sätzen bekommt man eine Ahnung vom Ditlevsen-Sound. Auch ihre
       großen Themen werden hier angesprochen: Ängste, Fremdheitsgefühle,
       Einsamkeit und die Sehnsucht nach einem Leben in anderen
       (Klassen-)Verhältnissen. Ditlevsen verkitscht die Welt der Kinder nicht,
       sie beschreibt das Ungeheuerliche, das jedes Kind und jeder junge
       Erwachsene in sich trägt.
       
       ## Nur Unglück und Abwegiges
       
       Sie interessiert sich nicht für das Glück und das Geradlinige, sondern für
       das Unglück und das Abwegige. Sie schreibt über „Millionen unglücklicher
       Kinder, Massen von treuherzigen Hausangestellten und eine unüberschaubare
       Heerschar von Liebhabern, verlassenen Ehemännern, untreuen Ehemännern,
       betrogenen und leichtsinnigen Frauen, alle Arten von Menschen, alle Arten
       von Leben, alle gleich einsam“, wie es an einer Stelle heißt.
       
       Tove Ditlevsen, die 1917 in Kopenhagen geboren wurde und sich 1976 das
       Leben nahm, ist in den vergangenen Jahren in Deutschland wiederentdeckt
       worden. In den 1960ern bis 1980ern hatte es bereits einige deutschsprachige
       Veröffentlichungen gegeben, danach war sie weitestgehend vergessen. Bis der
       Berliner Aufbau Verlag 2021 die sogenannte [1][Kopenhagen-Trilogie
       wiederveröffentlichte] („Kindheit“, „Abhängigkeit“, „Jugend“).
       
       Zuletzt folgte „Gesichter“, ein Buch über eine Psychose, und nun eben die
       gesammelten Short Storys [2][„Böses Glück“]. Ditlevsens autofiktionale
       Bände verkauften sich gut und wurden von der Kritik gefeiert. In Dänemark
       gehörte sie schon lange zur Schullektüre, hier wird sie erst jetzt einem
       größeren Publikum bekannt.
       
       ## Foucault-Thema als Belletristik
       
       Ditlevsen hat über Wahnsinn und Gesellschaft geschrieben, wenn man mit
       Michel Foucault sprechen möchte; mit literarischen Mitteln hat sie ähnliche
       Themen wie der französische Philosoph verhandelt: Normalität und
       Abweichung, Rationalität und „Verrücktheit“. Ein Beispiel ist die
       Kurzgeschichte „Depression“, in der die Frau eines depressiven Mannes die
       Protagonistin ist.
       
       Ditlevsen lässt sie sagen: „Manchmal hatte sie geradezu Schuldgefühle wegen
       ihres eigenen langweiligen Seelenlebens, denn in diesem Kreis erschien es
       ihr ein wenig armselig, dass sie inmitten einer wahnsinnigen und
       kriegsgebeutelten Welt an den notwendigen kleinen Dingen festhalten konnte,
       vor deren Hintergrund sich ihr Leben entfaltete. Aber sie war unheilbar
       normal, wenngleich Kai mitunter behauptete, sie habe lauter Hemmungen und
       Komplexe, die sie sich nicht eingestehen wolle.“
       
       Ditlevsen ist nicht denkbar ohne die zutiefst patriarchalische
       Gesellschaft, in der sie aufwuchs. In dieser war ein Dichterinnenleben für
       eine Frau noch viel weniger vorgesehen als für die vermeintlichen
       männlichen Schriftsteller-Genies. In dem neuen Band hat die Titel gebende
       Kurzgeschichte „Böses Glück“ autobiografische Züge: Die Protagonistin der
       Story kommt aus einfachen Verhältnissen, gelangt über die Ehe mit einem
       Verleger in literarische Zirkel und kann so ihre Gedichte veröffentlichen –
       genauso war es bei Ditlevsen.
       
       ## Abhängig von Männern
       
       Von einer Unabhängigkeit, wie sie ihre Zeitgenossin [3][Virginia Woolf] in
       „Ein Zimmer für sich allein“ für Schriftstellerinnen forderte, konnte in
       ihrer Karriere keine Rede sein. Die Rolle der Frau in der damaligen
       Gesellschaft persifliert Ditlevsen in der einleitenden Geschichte „Der
       Regenschirm“: Für Frauen ist rein gar nichts Eigenes vorgesehen, nicht mal
       ein Regenschirm, den die Protagonistin Helga in einem Laden kauft.
       
       Ditlevsen gelingt es in diesem Band oft, Psychogeografien von Beziehungen
       und Familien zu zeichnen. Wenig stimmt in diesen Beziehungen, alle Macht
       geht vom Manne aus, die Frau ist meist abhängig von ihm, nicht nur in
       finanzieller Hinsicht.
       
       Wie zusammengewürfelt wirken die Paare, die Partner:innen verstehen
       einander nicht. „‚Man kennt nicht einmal den Menschen, mit dem man
       verheiratet ist‘“, sagt eine Figur in einer Geschichte, eine andere
       weibliche Figur lässt Ditlevsen in einer Beziehungsszene folgenden Satz
       sagen: „Und plötzlich hatte sie das Gefühl, er wäre völlig fremd, ein
       Mensch, mit dem sie rein zufällig in diesem Raum saß.“
       
       Sich zu befreien, von den Normen, von den Erwartungen der Gesellschaft, von
       den Männern, das gelang der Schriftstellerin Tove Ditlevsen denkend,
       schreibend, erzählend. Wie, das kann man in diesen fünfzehn Kurzgeschichten
       nachlesen.
       
       9 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neuauflage-der-Kopenhagen-Trilogie/!5749962
   DIR [2] https://www.aufbau-verlage.de/aufbau/boses-gluck/978-3-351-03952-3
   DIR [3] /Virginia-Woolf/!t5649117
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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