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       # taz.de -- Besuch im KGB-Museum in Riga: Ein allgegenwärtiges Erbe
       
       > Das KGB-Museum in Riga dokumentiert den jahrzehntelangen Terror des
       > sowjetischen Geheimdienstes. Auch in Lettland fielen ihm Tausende zum
       > Opfer.
       
       Verfolgung, Haft, Angst, Erniedrigung und absolute Rechtlosigkeit. Welche
       Gedanken, Gefühle und Assoziationen haben junge Menschen, die aus den
       Nachfolgestaaten der Sowjetunion kommen und hier auf Spurensuche gehen?
       Gibt es vor allem Verbindendes oder auch Trennendes?
       
       Daria Kalashnikova aus der Ukraine, Ihar Dzemiankou aus Belarus und Sascha
       Alieva aus Russland – im Selbstversuch.
       
       ## Was Krieg und Terror mit Menschen machen
       
       An der Ecke der Brīvības (Freiheits)-Straße erregt ein sehr schönes Haus im
       Jugendstil meine Aufmerksamkeit. Es sticht überhaupt nicht hervor – im
       Gegenteil, das Haus fügt sich mit seiner Schönheit in das Gesamtensemble
       ein, denn etwa 40 Prozent der Gebäude im Zentrum von Riga sind im
       Jugendstil erbaut. Ich betrachte das Haus und bemerke ein Schild mit der
       Aufschrift „Geschichte der KGB-Operation in Lettland“. Nachdem ich eine
       Karte auf meinem Handy zu Rate gezogen habe, wird mir klar, dass es sich um
       dasselbe „Eckhaus“ handelt, in dem sich zu Sowjetzeiten der KGB befand.
       
       Während ich noch auf der anderen Straßenseite stehe, kommen mir Zweifel, ob
       ich dieses Museum besuchen soll. Denn das wird ein Test sein. Aber ich
       beschließe, mich mit den Details zu befassen, und als ich hineingehe,
       befinde ich mich in einer typischen Polizeistation aus Sowjetzeiten: eine
       mit braunem Kunstleder gepolsterte Tür, Steinfliesen mit farbigem Design,
       die eine schlechte sowjetische Kopie sind – eine visuelle Anleitung, wie
       man ein architektonisches Juwel ruiniert. Ich schaue mir alles so
       begeistert an, dass andere Besucher auf mich aufmerksam werden und fragen,
       wo die Führung stattfindet. Ich helfe ihnen, einen Guide zu finden, und
       schließe mich selbst der Tour an.
       
       Der Eindruck ist schrecklich. Alle diese Zellen, in denen 35 Menschen
       gefangen gehalten wurden, sind winzig. Den Hof kann man nur als Voliere
       bezeichnen, die Gefangenen wurden dort nur 20 Minuten am Tag wie Vieh frei
       laufen gelassen. Während des Rundgangs muss ich manchmal würgen. Denn das,
       was ich sehe, erinnert mich zu stark an die heutige Realität der Ukrainer,
       die unter russischer Besatzung leben.
       
       Ich mache eine Pause, um durchzuatmen, und gehe weiter durch die engen,
       feuchten Korridore. Als ich in den Keller hinuntergehe, komme ich in die
       ehemalige Küche, in der für die Gefangenen „leere Suppe“ zubereitet wurde –
       kochendes Wasser, in dem sich gelegentlich schmutzige Kartoffelstücke
       befanden.
       
       Der Guide sagt, dass sich die überlebenden KGB-Häftlinge in Lettland noch
       lange an das Knirschen des Schmutzes auf ihren Zähnen erinnerten. In diesem
       Moment gehen mir die Geschichten von Ukrainern durch den Kopf, die der
       russischen Besatzung entkommen sind. Seit sie zu Hause sind, freuen sie
       sich über einen einfachen ukrainischen Apfel, von dem sie in russischer
       Gefangenschaft geträumt haben. Am Ende des Rundgangs fragt ein Besucher,
       was sich in den oberen Etagen des „Eckhauses“ befinde. Der Reiseführer
       antwortet, dass diese leer stünden, die Menschen hätten immer noch Angst
       vor diesem Gebäude.
       
       Als ich wieder auf der Brīvības-Straße stehe, löse ich mich im Strom der
       Menschen auf den Straßen von Riga auf. Wie das Jugendstil-„Eckhaus“ passe
       ich perfekt in das europäische Ensemble, – ich spreche fließend Englisch,
       wurde in Europa ausgebildet und lebe jetzt hier. Aber nicht jeder will
       erfahren, was sich hinter der „Haustür“ meines Äußeren verbirgt.
       
       Ich wurde im ukrainischen Luhansk geboren, meine Heimatstadt wurde 2014 von
       russischen Truppen besetzt. Daher war ich gezwungen, nach Kyjiw zu ziehen
       und wurde zu einem Binnenflüchtling. Als ich am Morgen des 24. Februar 2022
       in Kyjiw durch Explosionen auf dem Flughafen Schuljany geweckt wurde, war
       ich zum zweiten Mal gezwungen, vor dem Krieg zu fliehen. Jetzt lebe ich als
       Flüchtling in Riga und werde oft mit der Tatsache konfrontiert, dass ich,
       obwohl ich mich äußerlich nicht von den Bewohnern Europas unterscheide,
       anders bin.
       
       An meinem ersten Morgen in Lettland war ich in Schweiß gebadet. Daran war
       ein Müllwagen schuld, der mit Getöse den Abfallcontainer in der Nähe meines
       Hauses leerte. Dieses Gepolter erinnerte mich an die Geräusche von
       Explosionen. Ich sprang aus dem Bett, schnappte mir meinen Pass und war
       kurz davor, auf die Straße zu rennen. Als ich zur Besinnung kam, beruhigte
       mich der Gedanke, in einem Nato-Land zu sein.
       
       Im vergangenen Jahr habe ich festgestellt, dass mich der Sommerregen mit
       seinem Donner erschreckt. Mich davon zu überzeugen, dass das nur das Wetter
       ist, gelingt mir nicht. Um an solchen Tagen schlafen zu können, lege ich
       mich im Badezimmer auf den Boden. So funktioniert die „Zwei-Wände-Regel“,
       die Teil der DNA der Ukrainer geworden ist. (Falls Sie während des
       Beschusses keinen Zugang zu einem Luftschutzbunker haben, müssen Sie einen
       Ort ohne Fenster finden, da Sie von Glassplittern verletzt werden könnten).
       
       Als Ukrainerin lebe ich in zwei parallelen Realitäten: Die eine ist der
       äußere Wohlstand dieser europäischen Stadt und die zweite ist die ständige
       Sorge um meine Verwandten in der Ukraine. Manchmal schreiben sie mir
       während des nächtlichen Beschusses eine SMS mit „Mir geht es gut“, noch
       bevor ich aus offiziellen Quellen weiß, wie viele Raketen das russische
       Militär in dieser Nacht abgefeuert hat. Wenn ich morgens ins Büro komme,
       höre ich meine Freunde über sportliche Siege, Pläne für einen Sommerurlaub
       und den Kauf von Immobilien reden.
       
       Nein, ich werde die Europäer nicht zwingen, in die innere Welt einer
       Ukrainerin einzutauchen. Jedoch: Für mich ist jede Gewalt mit etwas
       Russischem verbunden, ich bin anders. Daran sollten Sie sich erinnern, wenn
       Sie das nächste Mal eine europäische Frau sehen und herausfinden, dass sie
       Ukrainerin und deswegen möglicherweise anders ist. Vielleicht haben Sie
       Angst, mit Flüchtlingen ins Gespräch zu kommen, genauso wie die Bewohner
       von Riga Angst haben, die leeren Etagen des „Eckhauses“ zu füllen.
       
       Mit Ukrainern über den Krieg zu sprechen – Ihre Entscheidung. Aber ich
       kann Ihnen versichern, dass Sie, so Sie das tun, danach einen Apfel anders
       schmecken und bei einem Spaziergang durch die Brīvības-Straße beginnen
       werden, den Begriff „Freiheit“ zu schätzen.
       
       Daria Kalashnikova ist eine ukrainische Journalistin und lebt im lettischen
       Exil. 
       
       ## In Riga, doch plötzlich wieder in Minsk
       
       „Herzlich willkommen im Gefängnis“, sagt die Museumsführerin Wiktorija und
       führt uns durch ein Foyer, an dessen Wänden viele Porträts von Menschen
       hängen. Darauf sind Bewohner Lettlands zu sehen, die das Schicksal zu
       unterschiedlichen Zeiten in dieses Gebäude verschlagen hat.
       
       Wir sind im KGB-Museum, das sich im Zentrum der lettischen Hauptstadt Riga
       befindet. Unsere Gruppe hat Glück – alles drumherum ist eine Dekoration zum
       Anfassen, aber es gibt kein inneres Verlangen danach, das zu tun.
       
       Das alles dringt nach und nach ins Bewusstsein – mit jedem Schritt auf dem
       alten schäbigen Boden, dessen „Färbung“ an den Hall von Stiefelabsätzen der
       Mitarbeiter des Geheimdienstes NKWD (später KBG) erinnert.
       
       Die innere Selbsterhaltungsspirale des Belarussen beginnt sich
       herunterzuschrauben. Ich möchte erstarren, mich in eine Ecke setzen, ein-
       und ausatmen und die Augen schließen. Und wenn ich sie öffne, mich am
       Ostseestrand des lettischen Badeortes Jurmala wiederfinden. Wahrscheinlich
       haben auch viele „Gäste“ dieses Gebäudes davon geträumt. Wir bleiben in
       einem kleinen Flur stehen. Wiktorija stellt sich vor, sagt, dass sie aus
       dem ostukrainischen Charkiw stamme und nach dem Beginn von Russlands Krieg
       in der Ukraine nach Lettland gegangen sei.
       
       Nach einem kurzen Gespräch über den Krieg beginnt sie, die Geschichte
       dieses Ortes zu erzählen. Die Frau sagt, dass die Letten dieses Gebäude das
       „Eckhaus“ nennen würden und die Einheimischen hier keine Wohnungen kaufen
       oder Räume für Büros anmieten wollten. Die Atmosphäre von Tod und Qual ist
       hier allgegenwärtig und wirklich spürbar. An den gegenüberliegenden Seiten
       des Korridors hängen zwei Spiegel, deren Reflexionen einen endlosen
       Lichtstrom bilden. Ich gucke in den Spiegel. Und es ist, als ob ein
       Teleport vom KGB-Museum in der Brīvības-Straße in Riga funktioniert und ich
       mich in der Nähe des KGB-Gebäudes am Unabhängigkeitsprospekt in der
       belarussischen Hauptstadt Minsk befinde.
       
       Von den Behörden einmal abgesehen – in Belarus haben die Menschen nur den
       Wunsch, zu leben. Alles andere ist eine Fiktion, die derselbe KGB
       kontrolliert, in dessen musealer Zweigstelle sich mein Körper befindet.
       
       Mir gehen Gedanken durch den Kopf, dass die Belarussen kein solches
       Schaufenster des Grauens auf die Beine stellen müssen – das ganze Land ist
       ja ein Museum. Und das sind nicht nur Worte.
       
       So trat der ehemalige belarussische Innenminister Igor Schunewitsch noch
       2018 oft und gerne in der Uniform eines NKWD-Offiziers in der
       Öffentlichkeit auf. In seinen Kommentaren gegenüber Journalisten betonte er
       wiederholt, dass die moderne Strafverfolgungsbehörde in meinem Heimatland
       die Traditionen dieser Abkürzung, die immer noch Angst hervorruft, geerbt
       habe – NKWD.
       
       Man kann Schunewitsch nur zustimmen. Im August 2020 verbreiteten sich
       Aufnahmen von Menschen in Uniform um die ganze Welt, die friedliche
       belarussische Demonstranten schikanierten. Diese waren wegen einer
       unfairen Stimmenauszählung bei der Präsidentschaftswahl in Minsk auf die
       Straße gegangen.
       
       „In der Untersuchungshaft gibt es drei Ebenen mit Zellen, sie liegen alle
       unter der Erde“, fährt Wiktorija fort. Im KBG-Gebäude in Belarus gibt es
       auch unterirdische Kasematten. „Insgesamt gibt es 44 Zellen und über 40.000
       Menschen haben sie in 47 Jahren durchlaufen“, erklärt die Museumsführerin.
       Das entspricht zum Beispiel der Größe der deutschen Städte Ahaus, Bad
       Kreuznach oder halb Bambergs.
       
       Die Verhöre fanden hier fast immer nachts statt. Meistens kam ein
       Schlagstock zum Einsatz. Ein Schauer durchläuft den Körper in der Nähe der
       „Erschießungswand“. Vor allem dort wurden im Schutz der Nacht und unter dem
       Lärm eines Automotors Letten erschossen.
       
       … Ja, ein solches Museum kann es in meinem Land noch nicht geben. Aber die
       Belarussen glauben, dass wir die Ersten sein werden, die aus der
       Okrestina (eine Haftanstalt in Minsk, die für ihren besonders
       unmenschlichen Umgang mit Gefangenen berüchtigt ist; Anm. d. Red.) etwas
       Ähnliches machen werden.
       
       Allein laut frei zugänglichen Daten saßen hier in den vergangenen zwei
       Jahren über 30.000 Menschen ein. Was mussten sie nicht alles ertragen? Der
       Geschichte der Reiseführerin Wiktorija und den Aussagen der Belarussen
       nach zu urteilen, haben unsere Völker viele Gemeinsamkeiten. Den Letten
       ist es gelungen, die riesige Unterdrückungsmaschinerie zu zerstören. Ich
       glaube fest daran, dass das auch mein Volk schaffen wird.
       
       Ihar Dzemiankou ist ein belarussischer Journalist und lebt in Lettland im
       Exil. 
       
       ## Ein Déjà-vu: Einfach nur raus hier
       
       Von der ersten Sekunde an – das Gefühl, mit aller Macht nach Hause
       zurückversetzt worden zu sein: die Fenster, die Decke, der Boden, der
       Geruch, die Schritte, die Buchstaben und Namen. Ich berühre die Wände und
       schließe meine Augen. Wieder gehe ich durch die Korridore tierischer Angst.
       Die Kumpels lachen, machen Fotos. Ich lache nicht. Ich weiß, dass auch
       ihnen nicht danach zumute ist, aber sie wissen, wie man sich schützt, ich
       jedoch kann dieses Gefühl der Angst zulassen.
       
       Ich erinnere mich an die Tage vor einem Jahr in Russland: In einem
       gepanzerten Mannschaftswagen der Polizei wurden wir an einen unbekannten
       Punkt N gebracht – mit zitternden Fingern tippten wir heimlich Nachrichten
       an den Chefredakteur, unsere Kollegen und Mütter – später ließen wir uns
       Abdrücke dieser zitternden Finger im Tausch für Freiheit nehmen. Jetzt, in
       einem Museum in Lettland, möchte ich, wie früher, hier nur raus, mich in
       einer Ecke verkriechen, nichts wissen und mich an nichts erinnern.
       
       Aber ich erinnere mich – an Stimmen und Gesichter, an Spott und Grobheit.
       Du wirst sehr klein – unbedeutend, hilflos, weich – auf der Suche nach
       deiner Stärke, auf der Suche nach deinem Mut. Aber du tust so, als seist du
       schwach, um rauszukommen.
       
       Vor einem Jahr – wir liefen durch Moskau – kam ein Mann in Zivil auf uns
       zu. Solche Personen nennen wir „eschnik“ – ein Mitarbeiter des Zentrums „E“
       (Das Zentrum dient der Bekämpfung des Extremismus).
       
       Seine Aufgabe ist es, einen potenziellen „Verbrecher“ zu verfolgen, ihn zu
       filmen oder der Polizei zu übergeben). Uns fragte er, wohin alle gingen,
       wir sagten, wir wüssten es nicht.
       
       Das zu wissen, ist nicht notwendig. Eine Stunde später waren wir auf einer
       Polizeistation am Stadtrand. Wir gingen durch dieselben Korridore und saßen
       auf denselben Stühlen. Dies war kein Gefängnis, sondern vielmehr die
       Kurzversion eines Gefängnisses, aus dem wir herauskamen. Heute verlassen
       wir erneut eine Stunde später das Simulakrum der Vergangenheit – meiner
       Vergangenheit, der Vergangenheit Lettlands, der Gegenwart meines Landes.
       Jemand scherzt:„Jemand denkt, dass alles vorbei ist.“ Ich lache auch
       darüber, aber wir gehören nicht zu denen, die so denken.
       
       Sascha Alieva ist russische Journalistin und lebt im Exil. 
       
       Aus dem Russischen von Barbara Oertel.
       
       15 Jun 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daria Kalashnikova
   DIR Sascha Alieva
   DIR Barbara Oertel
   DIR Semion Radiwil
       
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