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       # taz.de -- Kirchentag diskutiert Krieg und Frieden: Beten allein reicht nicht mehr
       
       > Waffenlieferungen an die Ukraine? Der Kirchentag hat dafür Sympathie –
       > und empfängt auch den Generalinspekteur der Bundeswehr freundlich.
       
   IMG Bild: Friedrich Kramer, Friedensbeauftrager der Evangelischen Kirche, plädiert gegen Waffenlieferungen
       
       Nürnberg taz | Der Mut von Friedrich Kramer, Landesbischof der
       mitteldeutschen Kirche in Magdeburg, ist beträchtlich, beim 38.
       Evangelischen Kirchentag in Nürnberg stellte er dies unter Beweis. Der
       Theologe teilte auf einer Podiumsdiskussion „Welchen Frieden wollen wir?“
       mit, was er zuletzt auch sonst gesagt hat: dass Christen und Christinnen
       keineswegs Waffenlieferungen an die Ukraine zustimmen dürften. Wenn die
       Ukraine angegriffen werde, sei der Staat Opfer. „Der Staat braucht Waffen,
       um seine Integrität zu verteidigen.“
       
       Also nicht die Ukrainer*innen, die keineswegs russisch, schon gar nicht zum
       Imperium Russlands gehören wollen? Kramers beinah überfeinsinnige
       Interpretation des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine versteht
       sich umfassend: Opfer gebe es auf beiden Seiten, die Soldaten seien
       Zwangsrekrutierte, wie er sie nennt – Christen und Christinnen hätten sie
       alle im Blick zu halten, ihnen insgesamt gelte Solidarität und Hilfe, nicht
       der Ukraine allein.
       
       Damit war Kramer krass in der minderheitlichen Position: Auf jedem
       Kirchentag bis zum 24. Februar 2022 hätte der Bischof, kurioserweise
       Friedensbeauftragter in der EKD, der Leitungsinstitution aller
       Landeskirchen in Deutschland, für seine Aussagen nicht einmal frenetischen
       Applaus geerntet, so selbstverständlich wären seine Worte empfunden worden.
       Nicht jedoch in Nürnberg, beim ersten Kirchentag seit der Coronapandemie
       und seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine: Auf dem Podium
       erhielt er Beifall von allenfalls zehn Prozent der Zuhörenden, immerhin
       5.000.
       
       Viel stärker beklatscht wurden Beiträge wie die von Bundespräsident
       Frank-Walter Steinmeier, der zum Auftakt sagte, „es ist auch Zeit für
       Waffen“. Ein Statement, für das man ihn noch vor zehn Jahren in die
       politische Bedeutungslosigkeit gebuht hätte, und nun, wenn auch leicht
       beklommen: klingende Zustimmung.
       
       ## Kramer bekommt auf dem Podium deutlich Kontra
       
       Auf dem Hauptpodium, für das sich die Kirchentagskurator*innen
       eigentlich Margot Käßmann gewünscht hatten, gab Heike Springhart,
       Landesbischöfin in Baden, Kramer Kontra, und das teilweise eisig, ebenso
       wie Sven Giegold, grüner Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und
       Mitglied des Kirchentagspräsidiums. Beide erhielten nach ihren
       entschiedenen Plädoyers für die militärische Unterstützung der Ukraine
       massiven Applaus.
       
       Auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, bekam, obwohl er
       sich inhaltlich nicht in den Disput einmischte, freundlichen Beifall, auch
       für seine Aussage, dass Waffen immer die letzte Unterstützungsgeste zu sein
       haben, Diplomatie das erste Wort habe. Sowieso musste man staunen, auch
       eine Art Zeitenwende, dass der höchstrangige Bundeswehrmensch bei einem
       Kirchentag zu Gast sein konnte und auf so viel Gewogenheit traf.
       
       ## Dem Pazifismus der Boden weggebrochen
       
       So war dieser Kirchentag: Dem alten, eigentlich immer schon antipolitischen
       und womöglich sogar christfernen Pazifismus war der Boden unter den Füßen
       weggebrochen – die Tonalität war nicht kriegerisch oder gar militärisch,
       aber die Annahme, dass es überall Opfer gebe und man sich aufs Gespräch und
       Gebet verlege, sei durch den europäischen Krieg vor der Haustür der EU
       hinfällig geworden.
       
       Sowohl Kanzler Olaf Scholz (SPD) als auch Außenministerin Annalena Baerbock
       (Grüne) bekamen ein paar Unmutsäußerungen bei ihren Veranstaltungen zu
       hören, manche Transparente wurden ihnen entgegengehalten, aber sie hatten
       Heimspiele zu absolvieren, die Menschen auf dem Kirchentag waren auf der
       Seite dieser Vertreter*innen des Establishments, weil diese sich, so
       sagten es viele in Gesprächen jenseits der Veranstaltungen, die
       Waffenlieferungen auch nicht leicht machten.
       
       Margot Käßmann indes, Mitunterzeichnerin der
       Schwarzer-Wagenknecht-Unterschriftenaktion, hatte sich der Debatte auf dem
       Kirchentag entzogen – ohne nähere Gründe. Fernab sagte sie nur, dass der
       Kurs der Evangelischen Kirche in den Gemeinden, so höre sie es, keineswegs
       geteilt werde.
       
       Ob sie nun recht hat – oder die 90 Prozent der Menschen auf dem Kirchentag
       mit seinen bis zu 100.000 Besucher*innen, lässt sich nicht exakt ermitteln.
       Die Atmosphäre deutete an, dass die evangelische Christenheit in puncto
       Ukraine weniger Putin die zweite Wange hinhalten will als vielmehr mit dem
       Kampf des David gegen Goliath sympathisiert: Den Kampf zu gewinnen ist
       unwahrscheinlich, aber wenn Militärisches nützlich wäre, wäre auch dies,
       mit allen Gewissenslasten, vonnöten.
       
       Tragisch fast, dass vor dem Eingang der Kirchentagshallen auf dem
       Nürnberger Messegelände zwei Friedensinitiativen Stände aufgebaut hatten.
       Lag es an mangelnder Resonanz, dass diese schon Samstag wieder abgebaut
       waren? Die Demonstration von „Keine Waffenlieferungen an die
       Ukraine“-Freund*innen in der Innenstadt hatte respektvoll Resonanz
       gefunden, viele Zuschauende. Aber dass da massenhaft Menschen mitliefen, so
       wie in Hamburg 1981 zu „Frieden schaffen ohne Waffen“-Zeiten? Fehlanzeige.
       
       11 Jun 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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