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       # taz.de -- Ausbeutung von Arbeitsmigrant:innen: Deutschlands Schattenwelt
       
       > Die Existenznot treibt Menschen aus Osteuropa in den Westen. Statt des
       > erhofften besseren Lebens treffen sie auf Ausbeutung und Entrechtung.
       
   IMG Bild: Haben im Lockdown für Deutsche den Spargel gestochen – Erntehelfer aus Osteuropa
       
       Bei mir die Straße runter in Hamburg, wo ich vor einigen Jahren wohnte, gab
       es dieses bulgarische Café. Stolperte ich an Wochenenden mal erst bei
       Sonnenaufgang nach Hause, konnte ich beobachten, wie ein dunkler VW-Bus
       vorfuhr und einige müde Männer verschluckte. Diese Männer warteten darauf,
       dass sie irgendwer abholte, der sie irgendwohin brachte, damit sie
       irgendetwas arbeiten konnten, nur um später wieder vor diesem bulgarischen
       Café ausgespuckt zu werden.
       
       Dieser Straßenabschnitt wurde [1][der „Arbeiterstrich“ genannt]. Ein System
       von Ausbeutung, von zutiefst unsicherer, illegaler Beschäftigung. Die
       Arbeiter kamen aus Bulgarien, aus Rumänien und Moldau. Männer, die meist
       EU-Pässe besaßen und die eigentlich offiziell in der Europäischen Union
       hätten arbeiten können. Dennoch landeten sie in der Schattenwelt
       Deutschlands, wo sie ohne soziale Absicherung jeden Morgen gehandelt wurden
       wie Ware.
       
       In den ersten Pandemiejahren wurde für kurze Zeit ein Lichtstrahl auf eine
       andere, vom System her aber ähnliche Schattenwelt geworfen. Deutsche
       Betriebe luden damals Menschen aus Moldau und Rumänien zu sich ein, damit
       diese [2][bei der Spargelernte schuften durften]. Während hier bei uns zu
       dieser Zeit schärfste Coronabeschränkungen galten, wurde bei den
       Arbeiter:innen aus Osteuropa ein Auge zugedrückt. Wie Vieh wurden sie
       in Unterkünften zusammengepfercht, raus ging es nur für die Arbeit. Anders
       als beim Arbeiterstrich musste die Arbeitskraft nicht jeden Morgen mühselig
       rangeschafft werden. Das Arbeitstier hielt man sich um die Ecke. Wie
       praktisch.
       
       Die Existenznot treibt Menschen aus Osteuropa in den Westen. Sie ziehen los
       auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie wollen nicht viel: nur Arbeit
       und wie Menschen behandelt werden. Ist das zu viel verlangt?
       
       ## Warum ist Vitali Novacov gestorben?
       
       Auch Vitali Novacov ist diesem Versprechen gefolgt. Ein 45-jähriger Mann
       mit bulgarischem Pass, geboren in Moldau. [3][Nach einem Polizeieinsatz in
       Brandenburg ist Novacov] am 12. April auf der Intensivstation eines
       Neuköllner Klinikums in Berlin gestorben. Allein. Meine Kolleg:innen und
       ich haben diesen Fall recherchiert. Denn es gibt viele Fragen,
       Ungereimtheiten. Die Umstände seines Todes sind bis heute nicht aufgeklärt.
       War es Polizeigewalt? War er in psychischer Not? Und wenn ja, wurde mit
       dieser richtig umgegangen?
       
       Für viele war Vitali Novacovs Tod nur ein kurzer Bericht, eine Randnotiz.
       In Novacovs Heimatort hingegen ist seitdem die Welt stehen geblieben.
       
       In Moldau, wo ich herkomme, wo auch Vitali Novacov geboren wurde, verwaisen
       ganze Dörfer. Kinder wachsen ohne Eltern auf; sie sind für sie nur noch
       Gesichter auf Smartphonebildschirmen, denen sie zuwinken alle paar Tage.
       Fast eine Million Menschen haben Moldau auf der Suche nach besseren
       Lebensbedingungen bisher verlassen, und das bei einer Gesamtbevölkerung von
       rund 3,5 Millionen Menschen.
       
       ## Ausgenutzt, bis nichts mehr übrig ist
       
       Viele Sommer lang habe ich die Sätze gehört: Lass uns rüber zu Artjom
       gehen, er ist zurück aus Schweden. Oder: Komm, Ljoscha ist wieder da, aus
       Deutschland. Ein Pulk von Freunden scharrte sich dann um die Artjoms und
       Ljoschas, die auf einer Bank vor ihren Häusern saßen. Und dann erzählten
       sie: Wie die Arbeit gelaufen war, wie viel Geld sie nach Hause gebracht
       hatten – und wann es wieder zurück ging. Ich glaube, sie sahen immer müde
       aus. Und sicher weiß ich, dass es immer Alkohol gab, gegen die Erschöpfung.
       
       Arbeitsmigrant:innen sind so gut wie rechtlos. Sie werden ausgenutzt,
       bis von ihnen nichts mehr übrig ist.
       
       Vielleicht wollte Vitali Novacov diesem Schicksal entfliehen. Er wollte
       legal in Deutschland arbeiten, das erzählte uns ein Freund und auch die
       Familie. Für ihn hat sich das Versprechen auf ein besseres Leben nie
       eingelöst. Zurück nach Hause kam er in einem Sarg.
       
       23 Jun 2023
       
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