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       # taz.de -- US-Urteil zu Schwangerschaftsabbruch: Zuflucht in New Mexico
       
       > Ein Jahr nach dem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs sind die
       > Gesetze von Bundesstaat zu Bundesstaat sehr verschieden.
       
   IMG Bild: Franz Theard in seiner Klinik in Santa Teresa, New Mexico
       
       Santa Teresa/Las Cruces taz | In einem kleinen Einkaufszentrum in der
       Vorstadt Santa Teresa findet sich ein Zufluchtsort für verzweifelte Frauen
       aus Texas. Dort ist die [1][Women’s Reproductive Clinic] des Arztes Franz
       Theard untergebracht. Santa Teresa ist ein Vorort der
       900.000-Einwohner-Stadt El Paso mit einer Besonderheit: Während El Paso zu
       Texas gehört, liegt Santa Teresa in New Mexico – für viele Frauen ein
       entscheidender Unterschied.
       
       New Mexico ist ein sanctuary state, ein Zufluchtsstaat. So werden in den
       USA Bundesstaaten genannt, in denen Abtreibungen weiter legal sind. Vor
       einem Jahr, am 24. Juni 2022, [2][kippte der Supreme Court der USA das
       Grundsatzurteil „Roe versus Wade“], das sicherstellte, dass Abtreibungen
       in allen Bundesstaaten straffrei waren. Ob eine Frau heute in den USA legal
       und sicher abtreiben kann, hängt seitdem vor allem von der banalen Frage
       des Wohnorts ab.
       
       „70 bis 80 Prozent der Leute, die zu uns kommen, kommen aus Texas“, sagt
       Franz Theard. Er ist ein freundlicher Mittsiebziger, Leiter und Besitzer
       der Klinik, in der ungewollt Schwangere eine Abtreibung mittels Medikament
       machen können. Direkt nach der Entscheidung des Supreme Court war der
       Andrang besonders groß, denn in Texas galt ab dem Tag der Urteilsverkündung
       eine drakonische Gesetzeslage. „Vergangenen Juli allein hatten wir 390
       Personen hier“, sagt Theard.
       
       ## Schärfere Gesetze machen Arbeit unmöglich
       
       Theard war selbst lange Jahre Texaner. In Haiti geboren und aufgewachsen,
       wurde er in der US-Armee als Chirurg ausgebildet und zog schließlich nach
       El Paso, wo er als Arzt arbeitete und seine Kinder aufwuchsen. Seine Klinik
       in El Paso schloss er bereits 2020, die immer schärferen Gesetze in Texas
       hatten ihm seine Arbeit schon vor der Grundsatzentscheidung des Supreme
       Courts unmöglich gemacht.
       
       Lange pendelte Theard dann die kurze Autobahnfahrt zwischen seiner neuen
       Klinik in Santa Teresa und dem Stadtkern von El Paso, doch nun hat er auch
       seinen Wohnsitz nach New Mexico verlegt. „Ich weiß, dass Klagen gegen mich
       vorbereitet werden“, sagt er. In Texas drohen Mediziner:innen derzeit
       100.000 Dollar Strafe, wenn sie eine Abtreibung durchführen. Theard weiß,
       dass er als Bürger von New Mexico nicht belangt werden kann.
       
       Die Kluft zwischen den beiden Bundesstaaten im Südwesten der USA könnte
       kaum größer sein. Während in Texas nun selbst in potenziell tödlichen
       Notfällen keine Abtreibungen durchgeführt werden, hat in New Mexico die
       demokratische Gouverneurin Michelle Lujan Grisham kürzlich über 10
       Millionen Dollar für neue Kliniken entlang der gemeinsamen
       Bundesstaatengrenze zugesichert.
       
       New Mexico schultert dabei eine große Last für den Nachbarn im Osten. Der
       Staat ist ländlich und dünn besiedelt, nur rund 2 Millionen Menschen leben
       auf einer Fläche, die so groß ist wie Polen. New Mexico zählt zu den
       ärmsten Bundesstaaten der USA, neben Öl- und Gasfeldern leben die meisten
       Menschen vom Tourismus oder den großen Militärbasen, die hier angesiedelt
       sind.
       
       Texas hingegen hat 29 Millionen Einwohner und das zweitgrößte
       Wirtschaftsvolumen aller US-Bundesstaaten. Nicht nur dank hoher Ölpreise
       boomt der Bundesstaat, sondern auch wegen der vielen Hightechkonzerne, die
       sich dort angesiedelt haben.
       
       „New Mexico ist eine Wüste, wenn es um medizinische Versorgung geht“, sagt
       Kayla Harris von [3][Planned Parenthood] der taz. Die
       Nichtregierungsorganisation ist der größte Anbieter für Abtreibungen in den
       USA. Sie betreibt Hunderte Kliniken im ganzen Land. Harris leitet die
       Öffentlichkeitsarbeit für die Rocky-Mountain-Region, zu der auch New Mexico
       gehört. „Wir rechnen mit rund 26 Millionen Menschen, denen in den USA bald
       durch Konsequenzen der Supreme-Court-Entscheidung der Weg zu einer
       Abtreibung verwehrt wird“, sagt sie. „Auf uns und unsere
       Partnerorganisationen kommen also immense Herausforderungen zu.“
       
       ## Kein gesundes Essen, kein sauberes Trinkwasser
       
       In New Mexico ist das Problem besonders zugespitzt, weil es vielen seiner
       Einwohner:innen schon an wichtigen Grundlagen mangelt. „Es gibt hier
       viele Leute, die keinen Zugang zu gesundem Essen oder sauberem Trinkwasser
       haben“, sagt Harris. „Es wird also alles noch schwieriger, wenn plötzlich
       Tausende weitere Leute zur Gesundheitsversorgung dazukommen, die aus ihren
       eigenen Staaten verdrängt werden.“
       
       Planned Parenthood hat als Reaktion auf den Andrang kürzlich eine neue
       Klinik in Las Cruces eröffnet. Die Stadt liegt rund 40 Minuten Autofahrt
       von El Paso entfernt in New Mexico entlang des Flusses Rio Grande. In einem
       unscheinbaren Gebäude gegenüber einem Krankenhaus teilt sich die neue
       Einrichtung den Platz mit verschiedenen Ärzteniederlassungen. Im
       Unterschied zu Frank Theards Klinik werden hier auch chirurgische
       Abtreibungen durchgeführt.
       
       „Wir bauen auch unsere Kapazitäten aus, um Menschen per Internet beraten zu
       können“, sagt Kayla Harris. Durch sogenannte Telehealth-Technologie können
       Anbieter wie Planned Parenthood auch Abtreibungspillen an Personen
       versenden, denen die Anreise in eine der Kliniken der Organisation nicht
       möglich ist.
       
       Unangefochten ist das Recht auf Abtreibung in New Mexico aber auch nicht.
       Eine Reihe von konservativen Gemeinden im Bundesstaat hat im vergangenen
       Jahr Verordnungen verabschiedet, laut denen der Abbruch einer
       Schwangerschaft zumindest lokal verboten werden soll.
       
       Hailey Zock ist Anwältin beim [4][Southwest Women’s Law Center], einer
       Organisation, die sich aus Albuquerque im Norden des Staates für den Erhalt
       der Abtreibungsrechte einsetzt. Im Gespräch mit der taz beschreibt sie, wie
       der Nachbarstaat Texas auch in diesen kleinen ländlichen Gemeinden in New
       Mexico Einfluss nimmt: „In allen Fällen haben wir bemerkt, dass
       Abtreibungsgegner aus Texas an diesen Versuchen beteiligt waren“, sagt
       Zock. „Mitzukriegen, wie Leute aus einem anderen Staat kommen, um die
       politischen Prozesse hier zu beeinflussen, ist für mich besorgniserregend.“
       
       Der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates hat kürzlich beschlossen, diese
       lokalen Vorstöße erst einmal einzufrieren, bis über die Rechtmäßigkeit
       entschieden wurde. Gouverneurin Grisham setzt sich nun für ein Gesetz ein,
       dass das Recht auf Abtreibung in ganz New Mexico fest verankern soll.
       
       Sorgen bereiten Hailey Zock auch sogenannte Crisis Pregnancy Centers. Im
       Wesentlichen handele es sich dabei um Pseudokliniken, die von großen
       religiösen Organisationen finanziert würden, erzählt sie. „Sie stellen
       sich dar, als wären sie medizinische Einrichtungen, dabei sind sie als
       solche gar nicht zugelassen.“
       
       In den Crisis Pregnancy Centers werden Schwangere zu ihren Möglichkeiten
       beraten, dahinter steht aber in fast allen Fällen der Versuch, Menschen von
       einer Abtreibung abzubringen. Dies geschieht mitunter dadurch, dass sie
       ihre Klient:innen über die Risiken einer Abtreibung vermeintlich
       aufklären. „Dabei benutzen sie aber oftmals Fehlinformationen, zum
       Beispiel, dass eine Abtreibung das Brustkrebsrisiko erhöhe oder dass sie
       die Möglichkeit einer zukünftigen Schwangerschaft verhindere“, sagt Zock.
       Laut Zahlen des Southwest Women’s Law Center kommen auf sechs
       Abtreibungskliniken im Bundesstaat derzeit 31 Crisis Pregnancy Centers.
       
       Hailey Zock ist trotzdem optimistisch, was die nahe Zukunft der
       Abtreibungsrechte in New Mexico angeht. Sicher ist sie aber keineswegs.
       „Jeder Tag ist Chaos“, sagt Zock über das erste Jahr nach der
       Urteilsverkündung.
       
       ## Legales Cannabis hier, verbotene Abtreibungen dort
       
       In Santa Teresa ist die politische Auseinanderentwicklung von New Mexico
       und Texas auch noch anders zu sehen. Um den ländlichen Vorort herum finden
       sich Dutzende Dispensaries, so werden die Geschäfte für legales Cannabis in
       den USA genannt. In New Mexico sind Verkauf, Gebrauch und Besitz seit
       letztem Jahr legal, in Texas drohen weiterhin Haftstrafen.
       
       Dass die Versorgungslage für Abtreibungen in der Grenzregion zu Texas durch
       neue Angebote langsam besser wird, zeigt sich für Franz Theard daran, dass
       der Ansturm auf seine Klinik gerade etwas abgeebbt ist. Aber weder Santa
       Teresa noch Las Cruces sind ohne Weiteres für alle Texaner:innen
       erreichbar, die eine Abtreibung brauchen. Nicht alle haben das Geld für
       eine zehnstündige Autofahrt oder einen Flug aus den Ballungsgebieten im
       Zentrum von Texas.
       
       Und für Franz Theards Klinik steht gerade wieder ein Umzug an, erzählt er.
       „Der neue Vorstand der Treuhand, der das Gebäude gehört, ist ein
       Abtreibungsgegner“, sagt Theard. „Im Januar müssen wir hier raus.“
       
       24 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.reproductiveservices.com/
   DIR [2] /Supreme-Court-kippt-Recht-auf-Abtreibung/!5863405
   DIR [3] https://www.plannedparenthood.org/
   DIR [4] https://swwomenslaw.org/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Johannes Streeck
       
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