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       # taz.de -- Kritik am Kinder- und Jugendnotdienst: Garstiges Hilfesystem
       
       > Hamburgs Kinder- und Jugendnotdienst arbeitet mit Haus- und Hofverweisen.
       > Sozialwissenschaftler Michael Lindenberg kritisiert das.
       
   IMG Bild: Bleibt Kindern bei Fehlverhalten verschlossen: Portal des Hamburger Kinder- und Jugendnotdienstes
       
       Hamburg taz | Die Vorgänge beim Hamburger Kinder- und Jugendnotdienst
       (KJND) beschäftigen die ganze Stadt, seit ein 14-jähriger Junge nach
       mehrmonatiger Untersuchungshaft freigesprochen und dorthin zurückgeschickt
       wurde. Einige [1][Medien arbeiten sich derzeit an diesem einzelnen Kind]
       und dessen Schwierigkeiten ab, mit dem Ziel, Stimmung für ein neues
       geschlossenes Heim zu machen.
       
       Schon kurz vor Ausbruch dieser Debatte hatte die Linksfraktion in der
       Bürgerschaft eine Anfrage zu den Bedingungen beim KJND gestellt. In der
       Antwort des Senats sind die Hausordnung, Gruppenregeln und das Schema einer
       „Interventionskette“ bei „Nichtbeachtung von Regeln und Absprachen“
       enthalten, die ein anderes Schlaglicht auf die Zustände in der mit rund 100
       Plätzen größten Hamburger Einrichtung werfen.
       
       Die taz hatte schon 2021 [2][zwei ehemalige Bewohner interviewt], die sich
       vor allem über häufige Hausverbote beklagten. „Ich finde das schon echt
       hart, weil man dann ja wirklich bis nachmittags, abends ja draußen bleiben
       muss“, sagte uns der damals 19-jährige Chris*. „Und bei dem wenigen
       Taschengeld, was man da kriegt, den ganzen Tag ohne Essen draußen sein zu
       müssen, auch wenn schlechtes Wetter war, ist schon echt hart.“
       
       Er finde die Regelung schwachsinnig: „Weil die Leute, die da sind, gehen
       dann raus und überlegen sich, irgendeinen Blödsinn zu machen, um die Zeit
       rumzukriegen.“ Ein Schulbesuch sei für viele schwierig, weil die alte
       Schule meist weit weg liege und es im KJND-eigenen Vormittagsprogramm nicht
       für jeden Platz gebe.
       
       ## „Hausverbot“ oder „temporärer Gruppenverweis“?
       
       Der Senat antwortet nun auf die Linken-Anfrage etwas spitzfindig, dass es
       ein „Hausverbot“ für Bewohner beim KJND nicht gebe. Stattdessen spricht er
       von einem „temporären Gruppenverweis“, den es aber nur gebe, wenn ein
       Jugendlicher dauerhaft den Schulbesuch, die Teilnahme an einem
       Vormittagsprogramm oder anderen ihm gemachten Angeboten verweigere.
       
       Aus den als Anlage angefügten Dokumenten geht aber schon hervor, das ein
       „zeitlich festgelegter Haus- bzw. Hofverweis (Schule)“ zum Repertoire der
       „Sanktionen“ gehört. Bei einem massiven Verstoß gegen die Hausordnung wie
       Gewalt ist ein Hausverweis sogar bis 22 Uhr abends möglich. Den
       Jugendlichen seien gegebenenfalls „Fahrschein, Obst und Getränke“
       mitzugeben.
       
       Als „Reglementierungsmöglichkeiten“ sind ferner neben anderen
       Einschränkungen wie Fernseh- und Süßigkeitenverbot „Übernachtungen im
       TV-Raum“ möglich, was bedeutet, dass die Jugendlichen nicht in ihr Zimmer
       dürfen.
       
       Die taz hatte seinerzeit auch berichtet, dass eine Zwölfjährige in Folge
       eines späten Hausverbots die Nacht auf einer Polizeiwache in der Zelle
       verbringen musste. Doch Fragen dazu, ob das heute noch Praxis ist, mag der
       Senat nun gar nicht beantworten. Wie mit Kindern im Polizeigewahrsam
       umgegangen wird, sei Teil einer internen Dienstvorschrift und
       „grundsätzlich nicht mitteilungsfähig“.
       
       ## Linke kritisiert mangelnde Betreuung
       
       Die Linken-Jugendpolitikerin Sabine Boeddinghaus verweist darauf, dass im
       KJND junge Menschen in Obhut genommen werden, die selber Gewalt und
       Missbrauch erfahren haben und dort vom ersten Tag an unter Druck stünden,
       allen Erwartungen gerecht zu werden. „Die Hausregeln sind zu
       unterschreiben“, sagt Boeddinghaus.
       
       Ein Foto werde auch noch gemacht, falls der junge Mensch nicht rechtzeitig
       wieder in seiner Gruppe sei und polizeilich gesucht werde. „Was für ein
       krasser Ersteindruck muss das für schutzbedürftige junge Menschen sein“,
       fragt sich Boeddinghaus. Sie sei besorgt, dass auch [3][angesichts der
       aktuellen Überfüllung] des KJND die „notwendige individuelle Betreuung
       hintenüberfällt“.
       
       Der Sozialwissenschaftler Michael Lindenberg, dem wir die Unterlagen
       zeigten, sieht in den Disziplinarmaßnahmen einen Hinweis, dass der KJND
       seinen gesetzlichen Auftrag verfehlt. Denn eine Inobhutnahmeeinrichtung
       habe auch für die Erziehung und die Beaufsichtigung zu sorgen. Das sei ihre
       Amtspflicht.
       
       Wenn nun die Minderjährigen die Gruppe verlassen müssen, sich laut
       Hausordnung auch nicht im Treppenhaus aufhalten dürfen und sie auch noch
       Fahrscheine erhalten, lasse das darauf schließen, dass sie das KJND-Gelände
       zu verlassen haben. „Und damit geraten sie in Situationen, die durch die
       Maßnahme der Inobhutnahme vermieden werden sollten“, sagt der ehemalige
       Hochschullehrer.
       
       ## Tagsüber unbeaufsichtigt weggeschickt
       
       Es sei paradox, wenn der KJND Jugendliche in Not aufnehme und dann einige
       von ihnen tagsüber unbeaufsichtigt wegschicke. Das könne auch nicht geheilt
       werden, indem ihnen Gespräche angeboten werden sollen, denn das sei „in
       einer sozialpädagogischen Einrichtung selbstverständlich“.
       
       Lindenberg sagt, für die Disziplinarmaßnahmen gebe es möglicherweise
       Gründe, die mit der Größe der Einrichtung zusammenhingen. Er regt an, den
       großen KJND auf dem Gelände der Feuerbergstraße aufzulösen und durch
       dezentrale, lebensweltnahe Einrichtungen zu ersetzen. „Je kleiner eine
       Einrichtung, desto intensiver und vertrauensvoller kann der Umgang zwischen
       Bewohnern und Personal gestaltet werden“, sagt er.
       
       Der Jugendhilfeexperte Ronald Prieß vom Hamburger „Aktionsbündnis gegen
       geschlossene Unterbringung“ stört sich daran, dass in der Hausordnung und
       den übrigen Regelwerken Begriffe wie Vertrauen und Beziehung nicht
       vorkommen. Das in der Senatsantwort veröffentlichte [4][Schema
       „Konsequenzen und Interventionskette“] erinnere ihn in seiner technischen
       Sprache, der hohen Gewichtung des Einhaltens von Regeln und seiner
       Defizitorientierung an das Regelwerk der brandenburgischen
       Haasenburg-Heime.
       
       „Der KJND ist natürlich keine geschlossene Einrichtung“, sagt Prieß. Doch
       dieser habe nicht nur wegen der Größe, sondern auch wegen seiner
       konzeptionellen Ausrichtung ein Problem. Er weist darauf hin, dass bereits
       2019 eine Forschungsgruppe, nachdem sie ehemalige Nutzer interviewt hatte,
       forderte, dass „der KJND in seiner jetzigen Form geschlossen oder
       jedenfalls ganz neu konzeptioniert“ werden müsste. Überfällig sei eine
       Evaluation des KJND, einschließlich des dort seit 20 Jahren eingesetzten
       Sicherheitsdienstes und weiterer Inobhutnahme-Einrichtungen der Stadt.
       
       Die taz stellte am Donnerstag auch der Sozialbehörde Fragen zu Art und
       Sinnhaftigkeit der Hausverweise, die aber, da gerade sehr belastet, um mehr
       Zeit für die Antwort bat.
       
       25 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Debatte-um-freigesprochenen-Jugendlichen/!5938981
   DIR [2] /Hamburger-Kinder--und-Jugendnotdienst/!5773055
   DIR [3] /Versorgung-unbegeleiteter-Minderjaehriger/!5906508
   DIR [4] https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/84035/kinder_und_jugendnotdienst_hausverbote_und_abweisung_von_kindern_und_jugendlichen.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
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