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       # taz.de -- Roman „Draußen feiern die Leute“: Die falsche Welt
       
       > Das Aufwachsen in der Provinz kennt Sven Pfizenmaier gut. Der Autor, der
       > keinen Kühne-Preis gewinnen wollte, liest aus seinem Debutroman in
       > Lübeck.
       
   IMG Bild: Das Buch ist noch nicht raus, aber die mediale Aufmerksamkeit ist schon da: Autor Sven Pfizenmaier
       
       Richard langweilt alle Leute in seiner Nähe so sehr, dass die einfach
       bewegungslos werden. Selbst seine Mutter hält sich deshalb von ihm fern:
       Die beiden haben nur über Zettel miteinander Kontakt. Timo hat Gliedmaßen
       wie Pflanzen, seine Finger sind feine Äste, sein Körper ist ein dürrer
       Stamm. Dafür schämt er sich so sehr, dass er selbst im Sommer im Hoodie und
       mit Handschuhen rausgeht. Und dann ist da Valerie, Tochter von
       Russlanddeutschen aus Kasachstan, die teils mehrere Wochen am Stück
       schläft: Sie kann nicht aufwachen, ehe ein Traum tatsächlich ganz zu Ende
       geträumt ist. Valerie hat Angst irgendwann einmal ganze Jahre verschlafen
       zu haben.
       
       Die drei Jugendlichen sind die Hauptfiguren von Sven Pfizenmaiers
       Debütroman „Draußen feiern die Leute“ (Kein & Aber 2022, 336 S., 24 Euro;
       E-Book 19,99 Euro). Die drei wachsen in einem Dorf irgendwo zwischen
       Hannover und Braunschweig auf. Gemeinsam mit Richards Freundin Jenny
       versuchen sie herauszufinden, wohin deren Schwester Flora verschwunden ist
       – nicht die Einzige und nicht die Letzte, die einfach so weg ist. All diese
       Verschwundenen treibt das Verlangen nach einer Welt, in die sie besser
       hineinpassen.
       
       Pfizenmaier, Jahrgang 1991 und so wie seine Figuren in der
       niedersächsischen Provinz aufgewachsen, hätte im Herbst des vergangenen
       Jahres am Debütantensalon des Harbour Front Literaturfestivals in Hamburg
       teilnehmen sollen: Eine echte Chance für neue Autor:innen, denn von den
       Teilnehmer:innen erhält jeweils eine:r den Klaus-Michael-Kühne-Preis,
       dotiert mit 10.000 Euro.
       
       Pfizenmaier [1][sagte seine Teilnahme kurz vor der Lesung ab], kurz darauf
       [2][zog eine weitere Debütantin, Franziska Gänsler, nach]. Als Grund
       nannten sie die mangelhafte Aufarbeitung der [3][NS-Vergangenheit von Mäzen
       Kühnes Firma]: Der Logistikriese [4][Kühne + Nagel] hatte während der
       NS-Herrschaft europaweit von Juden und Jüdinnen enteignetes Eigentum
       transportiert und seine Rolle bis heute nicht aufgearbeitet. Das
       Unternehmen nutzt dafür die Ausrede, dass die Firmenunterlagen gegen Ende
       des Zweiten Weltkriegs bei Bombenangriffen zerstört worden seien.
       
       Die Absagen sorgten für hohe Wellen und veranlassten das Festival zu
       fragwürdiger Kriesen-PR: Der Preis, verkündete die Leitung, heiße künftig
       „[5][Debütpreis des Harbour Front Literaturfestivals]“, also ohne Hinweis
       auf den Mäzen mit der fleckigen Geschichte. Verliehen werde er auch nicht
       mehr in Kühnes Hotel an der Außenalster, sondern im Thalia Theater. Die
       Rolle Kühnes oder Pfizenmaiers und Gänslers Kritik thematisierte man
       hingegen nicht.
       
       Leere Lösungen bietet auch Rasputin an, der in „Draußen feiern die Leute“
       den Drogen- sowie Menschenhandel in Hannover und Umgebung kontrolliert:
       Verdeckt zieht er die Fäden, sodass sich auf dem Dorf allerlei Mythen um
       ihn ranken, etwa, dass es nur regnet, wenn Rasputin pinkelt. Jungen
       Menschen an, die an der Welt oder sich selbst verzweifeln, bietet er an,
       sie an einen besseren Ort zu bringen.
       
       In Pfizenmaiers Buch vermischen sich die magischen Elemente –
       anthropomorphe Tiere, Pflanzen-Timo, Langeweile-Richard, Traum-Valerie –
       mit solchen der sozialen Realität: Die jugendlichen Figuren kämpfen gegen
       die Zwänge in Schule und Familie oder ringen mit sozialem Ausschluss. So
       leidet Timo nicht nur an seinem Körper, sondern gleich auch noch unter
       seiner Oma: Die 157-Jährige hält die Familie mit ihren abergläubischen
       Riten unter einer eisernen Regie.
       
       Auch die anderen kämpfen mit je eigenen Problemen und müssen sich dabei
       noch mit ihren Familien arrangieren, die allesamt abwesend, erdrückend oder
       dysfunktional sind.
       
       Pfizenmaier schafft es, dass die schwere Thematik nicht alles erdrückt:
       Mittels ironischer und humoristischer Brüche schwankt die Erzählung
       zwischen den sozialen Realitäten der Figuren und den absurder „magischen“
       Aspekten. Leben in Gesellschaft, das wird hier klar, ist ein Kampf mit
       anderen – und mit sich selbst ist. Seine Figuren zeigen auch, dass man Wege
       finden kann, das vielleicht sogar tun muss, um mit diesem Leben umzugehen.
       
       Soeben hat Pfizenmaier für den Roman den Literaturpreis der Stadt Hannover
       bekommen – bei weitem nicht die erste Auszeichnung. Und in Lübeck könnte er
       nun endlich auch in den Genuss eines Debütantenpreises kommen: Zusammen mit
       Lea Draeger („Wenn ich euch verraten könnte“) und Behzad Karim Khani
       („Hund, Wolf, Schakal“) liest er am Mittwochabend um 19 Uhr im
       Buddenbrookhaus.
       
       28 Jun 2023
       
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