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       # taz.de -- Die Kunst der Woche: Das Material malt mit
       
       > Der Projektraum Scotty hat das Jahr des Materials ausgerufen. In der
       > Ausstellung zum Open Call tritt die Materialität der Kunst handlungsstark
       > zu Tage.
       
   IMG Bild: Blick in die Ausstellung mit Arbeiten von Susanne Specht und beate maria wörz
       
       Der Kalksteinbrocken, in den Birgit Cauer für ihre Arbeit „Litho Vital V“
       mit Salzsäure geätzt hat, schwebt bei [1][SCOTTY] an der Wand. Losgelöst
       von seiner ursprünglichen Formation birgt er die Spuren jahrtausealter
       Ablagerungsprozesse in sich, die die Künstlerin durch ihre
       Behandlungsverfahren innerhalb von Tagen in ihrem Atelier freizulegen
       vermag. Die Korrosion, die Cauer im Zeitraffer sichtbar macht, deutet
       daraufhin, dass sie mit ihrer Frage, ob Steine tatsächlich als die leblose
       Materie gelten können, zu der das Anthropozän sie so lange erklärt hat, auf
       der richtigen Spur ist.
       
       Dieser Spur folgt auch das Jahresthema „Material“, das der Projektraum für
       zeitgenössische Kunst und experimentelle Medien für dieses Jahr ausgerufen
       hat und der er sich nun mit 25 Positionen, die aus dem Open Call zum Thema
       ausgewählt wurden, annähert. Buchstäbliche Spuren bildet Juliane Tübke mit
       ihrer Tonskulptur „KIN (12099)“ ab, für die sie die Textur eines
       luftentleerten Basketballs von außen nach innen gekehrt hat.
       
       Wie Raum sich ausdehnt und aufs Kleinste zusammenfaltet, vollzieht Helena
       Kauppila mit ihrer Textilskulptur „Event Horizon (Information Paradox)“
       nach. In ihrem Konglomerat aus Merinowolle und Sicherheitsreflektorgarn
       schmiegen sich einzelne Blätter wie bei einem Kohl umeinander und kommen
       sich zum innern hin immer näher.
       
       Das bewusst gewählte Strickwerk, so beschreibt es die Künstlerin und
       Mathematikerin, erfordert einen ganz bestimmten Standpunkt, um die
       Oberfläche der bunten Wollelemente vor den Augen der Betrachter_innen zum
       Flirren zu bringen. Welche Ereignisse und Zusammenhänge wir überhaupt
       wahrnehmen können und von welchen wir uns mit bestimmten Bewegungen
       abschirmen, hängt – so leeren es uns Schwarze Löcher – davon ab, welche
       Schritte wir zu gehen bereit sind.
       
       Welch irreversiblen Schaden die verheerende Unterschätzung beziehungsweise
       bewusste Inkaufnahme der materiellen Konsequenzen von Ölkatastrophen durch
       Tankerunglücke und Pipelinelecks ausrichtet, referiert Markus Willekes
       Tuschezeichnung, auf der das gelb-rote Shell-Zeichen gerade im Begriff ist,
       von der Logo-Muschel in einen Totenkopf zu morphen.
       
       ## Alltagrsreste und malende Materie
       
       Materialeigenschaften wie Transparenz und Schwere drehen sich hier
       ebenfalls ins Gegenteil. Fragile Neonröhren empfindet Markus Wüste in
       Marmor nach, Atelierreste erscheinen bei Olivia Martin Moore als schwerer
       Steinklumpen, der so wie er hier in einer hauchdünnen Plastiktüte für Obst
       aus dem Supermarkt nicht mal wenige Sekunden durchhalten würde.
       
       Noch unnachgiebiger ist das überdimensionale Aluminium-Mobile „Ab OVO“ von
       Susanne Specht, aus dessen Mitte die Künstlerin rechteckige Rahmen
       herausgesägt hat, die sich in glühendem Orange aus dem silbern glänzenden
       Oval herauswinden.
       
       Das Material der Malerei – als Malsubstanz und als Farbe – kommt hier
       ebenfalls zur Anerkennung. NK Doege legt für „Production“ Stoffproben einer
       Strickmaschinenfirma als geschichtete Farbfeldmalerei an. Bei beate maria
       wörz wird das Malmaterial aus der Küche gewonnen. Ihr Diptychon
       „grün_2022“, setzt, wie es der Name schon sagt, die Farbe Grün in Szene.
       Gehalten wird die Akrylfarbe von Papierbindestreifen, die die Künstlerin
       auf Museumskarton senkrecht aneinander reiht. Das klare Raster ermöglicht
       den Farbnuanzen in alle Richtungen auf- und abzusteigen. Auch Alltag kann
       die Wahrnehmung wunderbar frei setzen.
       
       Ganz subtil drückt sich dies noch einmal bei Alketa Ramaj aus, die für ihre
       trägerfreie Malerei „Impurity (line 5)“ eine Reihe rechteckiger Stoffstücke
       gesammelt hat, die in Industriewaschmaschinen Farbüberschüsse von Kleidung
       in sich aufnehmen. Ebenfalls als Fächer laufen die subtil getränkten Lappen
       in dieser spannend gehängten Ausstellung die Wand empor.
       
       Geka Heinke schließlich überlässt auf ihrer anziehenden Arbeit „Floating
       Grid #3“ nach dem wiederholten Auftragen roter Farbe, die in Form einer
       Reihe prominenter Rechtecke das Papier strukturiert, schließlich Öl und
       Wasser das Feld, die diese Rechtecke unterlaufen und gleichzeitig tragen.
       Kurz: Das Material malt mit.
       
       1 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://scotty-berlin.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Noemi Molitor
       
       ## TAGS
       
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