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       # taz.de -- Aus für die „Wiener Zeitung“: Kurzer Prozess, lange Geschichte
       
       > Österreichs schwarz-grüne Regierung schließt ohne Not die älteste noch
       > erscheinende Tageszeitung der Welt. Die „Wiener Zeitung“ wird fehlen.
       
   IMG Bild: Demo in Wien am 25. April gegen die Pläne der österreichischen Bundesregierung
       
       Seit Wochen prangt eine rote Zahl am Titelblatt der Wiener Zeitung. Es sind
       die Tage, die ihr noch bleiben. Heute wird die Zahl eine Null sein.
       [1][Heute, am 30. Juni 2023, erscheint die letzte Ausgabe des
       Traditionsblattes.]
       
       1703 auf Initiative Kaiser Leopolds I. als „Wiennerisches Diarium“
       gegründet, im Todesjahr Maria Theresias 1780 zur Wiener Zeitung umbenannt,
       verpflichtete sich das Blatt von Anfang an der Sachlichkeit. Es sollten die
       „einlauffenden Begebenheiten ohne einigen oratorischen und poëtischen
       Schminck“ berichtet werden, hieß es in der allerersten Ausgabe.
       
       1789 druckte die Wiener Zeitung die allgemeine Erklärung der Menschenrechte
       vollumfänglich und in deutscher Übersetzung ab, für ein staatstragendes
       Blatt durchaus bemerkenswert.
       
       Seitdem erschien sie, mit Ausnahme der Kriegsjahre 1940 bis 1945 ohne
       Unterbrechung. In den letzten Jahren lieferte sie, auch in Zeiten des
       Mediendarlings Sebastian Kurz, konstant kritische Berichterstattung. Nun
       ist dies vorbei: Die schwarz-grüne Bundesregierung beschloss letzten Herbst
       ohne Not die Schließung der Wiener Zeitung in ihrer bestehenden Form. Im
       April ging das entsprechende Gesetz durch den Nationalrat.
       
       ## Absolut anachronistisch
       
       Warum ihr das möglich ist? Die Wiener Zeitung wird von der Republik
       Österreich herausgegeben, selbstredend alles andere als ein Idealzustand
       und absolut anachronistisch. Dass sie in ihrem „Amtsblatt“, dem amtlichen
       Veröffentlichungsblatt der Republik, allwöchentlich staatliche
       Stellenausschreibungen, Konkurse, Firmenbilanzen gegen Zahlung einer Gebühr
       abdruckte, war aber auch ihre Lebensversicherung. Infolge einer
       EU-Richtlinie wurde dies geändert, die Infos wandern nun auf eine neue
       Onlineplattform, die Einnahmen der Wiener Zeitung entfallen.
       
       Anstatt eine alternative Finanzierung aufzustellen, blieb die Regierung
       dabei, das Blatt zu schließen. Gegen diese Entscheidung liefen Redaktion
       und Zivilgesellschaft Sturm, sogar der Bundespräsident meldete sich zu
       Wort.
       
       Nach monatelangem Protest war am Ende klar: Die Regierung bleibt dabei,
       komme was wolle. Die Wiener Zeitung hatte keine große Leserschaft –
       berichtet wird von knapp 20.000 Exemplaren werktäglicher Auflage –,
       lieferte aber unaufgeregten Qualitätsjournalismus. Das machte sie zur
       Rarität: Der österreichische Zeitungsmarkt ist klein, [2][teilweise mit der
       Politik verhabert] und von drei übergroßen Krawallblättern geprägt.
       
       Die Inseratenkorruption der letzten Jahre geht weiter wie eh und je:
       Ministerien, Bundeskanzleramt, im Übrigen auch die Stadt Wien schalten nach
       Gutdünken Anzeigen in Millionenhöhe und erhoffen sich wohlwollende
       Berichterstattung, die sie in einigen Medien auch bekommen. Nach dem Abgang
       von Kanzler Kurz gab es ein kurzes Fenster für ein Ende dieser Unkultur.
       Die Regierung und die begünstigten Medien haben es nicht genutzt.
       
       ## Wider das banale Geplänkel
       
       Die Wiener Zeitung war ein Fels in der Brandung, blieb beharrlich kritisch
       und entzog sich dem allzu banalen politischen Geplänkel, soweit das in
       einem Land wie Österreich möglich ist. Sie bot tagtäglich Hintergrund und
       Analyse, wertvolle Recherchen aus der Stadt- und Bundespolitik, die sie
       aber nie an die große Glocke hing. Auch ihr Feuilletonteil ist einer der
       besten das Landes.
       
       Als freier Journalist habe ich gelegentlich Auslandsreportagen der Wiener
       Zeitung angeboten. Wo andere österreichische Zeitungen ablehnten, hatte sie
       Platz dafür. Auch für unspektakuläre Themen aus Weltregionen, über die
       sonst kaum je berichtet wird. Auch das eine Seltenheit im sehr mit sich
       selbst beschäftigten Österreich.
       
       Nun soll das Amtsblatt digital erscheinen, ebenso eine [3][neue stark
       entschlackte Digitalausgabe,] die bereits am 1. Juli startet, mit der
       Option auf mehrere gedruckte Ausgaben pro Jahr. Als Rumpfredaktion, denn
       drei Viertel der rund 80-köpfigen Belegschaft wurde gekündigt, darunter
       alle Ressortleiter und die Chefredaktion. Was nachkommt, weiß noch niemand
       so genau. Jedenfalls kein tagesaktueller Journalismus mehr, sondern
       zeitlosere Texte und Hintergrunddossiers, ohne feste Ressortstruktur.
       
       Vielleicht wird das eine Nische im ebenso dürftigen Onlinemedienmarkt
       Österreichs finden. Ersatz für die Wiener Zeitung wird es aber keiner sein.
       
       30 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/medien/2194098-Chronologie-einer-gescheiterten-Rettung.html
   DIR [2] /Hausdurchsuchung-bei-Wiener-Gratisblatt/!5925329
   DIR [3] /Presse-in-Oesterreich/!5882539
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Florian Bayer
       
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