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       # taz.de -- Drogenproblem in Neukölln: Drogenelend vor barocker Kulisse
       
       > Der Körnerkiez ist ein Hotspot der Drogenszene. Anwohner sind verärgert,
       > Sozialarbeiter:innen fordern mehr Anlaufstellen.
       
   IMG Bild: Im Körnerpark in Neukölln steigt der Drogenkonsum
       
       Berlin taz | Die Stimmung ist hitzig in der Magdalenenkirche in Neukölln.
       Die Anwohner*innen des Körnerkiezes fallen sich gegenseitig ins Wort,
       sie sind sauer: „Ich wurde in meinem eigenen Hausflur überfallen und man
       hat mir die Goldkette vom Hals gerissen!“, ruft eine ältere Dame in die
       Runde. „Wie kann es sein, dass ich auf meinem Balkon stehe, genau sehe, wie
       unten gedealt wird, und die Polizei nichts macht?“, beschwert sich eine
       andere Frau bei einem Polizeibeamten, der ihr gegenübersteht und leicht
       überfordert wirkt.
       
       Seit einigen Jahren gibt es im Körnerkiez ein Drogenproblem. Spritzen
       liegen in Parks und auf dem Gehweg, obdachlose Menschen müssen die Straße
       als ihr Wohnzimmer nutzen, da sie kein eigenes haben. Der Konsum findet auf
       offener Straße statt. „Neulich war ich im Park. Auf einer Bank saß eine
       Mutter und stillte ihr Kind. Zwei Meter hinter ihr hat sich ein Junkie
       einen Schuss gesetzt“, schildert eine Anwohnerin die Situation. „Für Leute,
       die das nicht kennen, mag das schockierend klingen, aber für uns hier ist
       das eine bekannte Szene.“
       
       Um die Gemüter zu beruhigen und Lösungen zu finden, hat das Bezirksamt Ende
       Mai zum Dialog geladen. „Schon seit Längerem häufen sich die Beschwerden
       zur Drogenproblematik in Neukölln“, heißt es in der Einladung.
       Bürger:innen, Mitarbeiter:innen von Polizei, Ordnungsamt und
       Grünflächenamt sowie Straßensozialarbeiter:innen haben sich dazu
       in der Magdalenenkirche in der Karl-Marx-Straße versammelt, in die die
       ursprünglich im Gemeindesaal anberaumte Veranstaltung wegen des großen
       Andrangs verlegt werden musste.
       
       Die neue Suchthilfekoordinatorin des Bezirks, [1][Lilli Böwe], eröffnet die
       Veranstaltung und stellt klar: „Ordnungspolitik ist im Moment nicht
       sinnvoll. Wir können die Menschen nicht einfach vertreiben.“ Bei Fragen
       oder Anliegen sollen sich die Anwesenden gern an sie wenden, betont Böwe.
       Im Anschluss sollen in Kleingruppen Probleme benannt und Lösungen gefunden
       werden.
       
       ## Kaum Rückzugsorte
       
       Inwieweit sich die Drogenproblematik in den vergangenen Jahren tatsächlich
       verschärft hat, ist schwer zu fassen. Aktuelle Zahlen zur Suchtproblematik
       im Kiez gibt es nicht. Die Stigmatisierung von Suchtkranken sowie Furcht
       vor Repression erschwert die Erhebung von Daten. Die Anwesenden sind sich
       allerdings einig, dass es mehr geworden ist. „Ich wohne seit über 14 Jahren
       im Kiez und das Problem ist in den letzten zwei Jahren massiv schlimmer
       geworden“, bringt es einer von ihnen auf den Punkt.
       
       Streetworker Malte Dau von [2][Fixpunkt] sagt, das Problem sei nicht
       unbedingt größer, aber sichtbarer geworden. Der Verein betreibt
       [3][akzeptierende Drogenhilfe] und unterstützt suchtkranke Menschen durch
       Sozialberatung und medizinische Betreuung. Die größere Sichtbarkeit des
       Drogenkonsum liege unter anderem daran, dass es immer weniger Brachen gibt,
       erklärt Dau. Die ungenutzten Flächen sind ein beliebter Rückzugsort für
       Suchtkranke, weil sie dort niemanden stören. Die Schließung des
       Drogenkonsumraums in der Karl-Marx-Straße 202, direkt gegenüber der
       Magdalenenkirche, hat den Konsum zusätzlich auf die Straße verlagert. Wegen
       eines Wasserschadens ist der Raum seit März dicht. Wann er wieder öffnet,
       ist unklar.
       
       Selbst wenn die Räume nicht geschlossen sind, gibt es Hürden für die
       Besucher:innen. Etwa die eingeschränkten Öffnungszeiten bis lediglich 18
       oder 19 Uhr. Die Berliner Rechtsverordnung gibt zudem vor, dass sich die
       Bedürftigen vor dem ersten Besuch in jedem Drogenkonsumraum registrieren
       müssen. Dafür müssen sie ihren Personalausweis vorzeigen und teilweise
       sogar ihre Suchthistorie offenlegen. „Wenn ich in eine Kneipe gehe, muss
       ich mich auch nicht vorher nackig machen und angeben, was ich konsumiert
       habe und wie oft“, kritisiert Dau.
       
       Wenn der Sozialarbeiter sich im Umgang mit suchtkranken Menschen etwas
       wünschen dürfte, wäre es ein Raum, der rund um die Uhr geöffnet ist. „Wir
       hatten vor der Coronapandemie um die 2.000 Besucher pro Monat, teilweise
       auch über 200 am Tag“, erzählt Dau. „Die Menschen haben den Raum auch als
       Wohnzimmer genutzt. Sie haben sich gestritten, vertragen, geliebt, gehasst.
       So wie es im Leben halt ist“, erzählt er.
       
       ## Legalisierung schützt
       
       Durch Öffnungszeiten rund um die Uhr hätten die Bedürftigen einen Ort, den
       sie jederzeit aufsuchen können. Neben der sicheren Aufbewahrung ihrer
       Wertgegenstände gäbe es die Möglichkeit der Unterstützung durch eine
       Sozialberatung. Auch der Safer Use von Drogen durch ein sauberes Umfeld und
       sterile Spritzen sowie die Betreuung durch Ärzt:innen wäre gewährleistet,
       zählt Dau die Vorteile einer Rund-um-die-Uhr-Anlaufstelle für
       Drogenabhängige auf.
       
       Dau arbeitet schon seit über 20 Jahren bei Fixpunkt und leitet in Neukölln
       ein kleines Team aus Streetworker:innen. In seinem Büro unweit des
       Neuköllner Rathauses stapeln sich in einem Regal kleine Kartons mit
       sterilen Spritzen und anderen Utensilien. Es sieht ein wenig so aus, als
       hätte das Team Coronatests für die nächsten zehn Jahre gehortet. Durch das
       offene Fenster hört man die Vögel im Hinterhof zwitschern.
       
       Daus Kollegin Maria Schaal, die seit einem guten halben Jahr Teil des Teams
       ist, hat einen noch weitreichenderen Wunsch: Die Legalisierung aller Drogen
       – nicht nur von Alkohol und Nikotin. Vor dem Hintergrund der stockenden
       [4][Legalisierung von Cannabis] scheint diese Forderung allerdings
       unrealistisch. Dabei würde die Legalisierung weiterer Substanzen einige
       Vorteile mit sich bringen, findet Schaal. Die Konsumierenden würden durch
       eine Qualitätskontrolle vor Unreinheiten und beigemischten Substanzen
       geschützt und die Beschaffungskriminalität fiele weg.
       
       „Für wen hat es einen Mehrwert, Leute wegzuknasten, die ein paar Drogen
       dabeihaben?“, fragt Schaal. Zudem könnten die wegfallenden Gelder für die
       [5][Haftkosten] so anderweitig eingesetzt werden: für mehr Personal zum
       Beispiel oder neue Räume.
       
       ## Drogenproblematik zur Chefsache
       
       Um neue Räume ist auch das Bezirksamt Neukölln bemüht. „Eine konkrete
       Immobilie ist leider im Augenblick nicht im Blick“, heißt es auf
       taz-Anfrage: Allerdings nehme man Hinweise auf geeignete Gewerberäume gerne
       entgegen.
       
       Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) möchte die gesammelten Forderungen
       der Bürger:innen nun in einer „gesamtstädtischen Strategie“ umsetzen.
       Konkreter wird Hikel nicht. „Wir ersticken in Neukölln im Konsum und unter
       den Folgen – aber das ist ja kein Neuköllner Problem“, so Hikel zur taz.
       
       Da das Thema so viele Bereiche betrifft, sollen die Senatsverwaltungen für
       Gesundheit, Finanzen, Inneres, Stadtentwicklung, Soziales, Umwelt und
       Verkehr einbezogen werden – genauso wie externe Partner, von der BVG über
       die Polizei, der Kassenärztlichen Vereinigung bis zu sozialen Trägern. Das
       Thema müsse „endlich zur Chefsache“ werden, erklärt Hikel. Wann die
       Strategie erarbeitet sein soll, lässt er offen. Es wird sicherlich nicht
       die letzte Gesprächsrunde zur Drogenproblematik im Körnerkiez gewesen sein.
       
       21 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.berlin.de/ba-neukoelln/aktuelles/pressemitteilungen/2021/pressemitteilung.1126308.php
   DIR [2] https://www.fixpunkt.org/
   DIR [3] /Drug-Checking-in-Berlin/!5936170
   DIR [4] /Cannabis-Legalisierung-in-Deutschland/!5924667
   DIR [5] /JVA-Chef-ueber-Ersatzfreiheitsstrafen/!5908951
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Leonel Steinbrich
       
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