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       # taz.de -- Pflegekräfte aus Drittstaaten: Das nicht gelobte Land
       
       > Deutschland wirbt um Pflegekräfte im Ausland, auch außerhalb der EU. Doch
       > ihr Weg ist geprägt von Sprachbarrieren und Rassismus.
       
   IMG Bild: In Deutschland erst mal nur als Pflegehilfskraft zu arbeiten ist finanziell nicht verlockend
       
       Stuttgart taz | Es ist eine kleine Bitte, kann aber einer Iranerin,
       studierte Pflegefachkraft mit B2-Sprachzertifikat in Deutsch, ein riesiges
       Fragezeichen ins Gesicht malen: „Schweschdr, I häd gern zum Frühschdügg a
       Weckle mit Gsälz.“ Himmel, wer soll diesen Satz einer Bewohner:in in
       einem schwäbischen Pflegeheim verstehen, auch wenn es sich nur um die Bitte
       nach einem Marmeladenbrötchen handelt?
       
       „Der Dialekt ist eine besondere Herausforderung, wenn Pflegekräfte aus dem
       Ausland in einer stationären Einrichtung arbeiten“, sagt Marc Bischoff. Er
       ist Geschäftsführer des Trägers „Leben und Wohnen“, der eine
       Altenpflegeschule in Stuttgart betreibt. Die Schule bietet zusätzliche
       Kurseinheiten an, auch zum schwäbischen Idiom.
       
       Die deutsche Sprache, erst recht mit ihren Dialekten, ist eine der Hürden
       für die Zuwanderung von Pflegekräften aus dem Ausland. Und diese Hürden
       können darüber entscheiden, ob wir hier ein riesiges Problem kriegen, ohne
       dass eine Lösung in Sicht ist: Im Jahr 2030 werden nach Schätzungen der
       Barmer Ersatzkasse rund 180.000 Pflegekräfte fehlen. Weil es immer mehr
       Alte gibt und zu wenige Junge.
       
       Dieses Problem haben auch andere wohlhabende Gesellschaften, international
       ist ein Kampf um qualifizierte Pflegekräfte entbrannt. Deutschland ist
       dabei [1][auf Betteltour]. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ging
       erst kürzlich auf Anwerbereise nach Brasilien, Jahre davor tourte
       Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nach Mexiko. Der Erfolg ist
       übersichtlich: Mit dem staatlichen Programm „Triple Win“ kamen vergangenes
       Jahr 182 Pflegekräfte aus Mexiko nach Deutschland.
       
       ## Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf dem Prüfstand
       
       Am Freitag wurde im Bundestag über das neue Gesetz zur Weiterentwicklung
       der Fachkräfteeinwanderung abgestimmt. Es soll die Arbeitsmigration
       ankurbeln. Nur ob und wie sich der Erfolg etwa in der Pflege darstellt, ist
       nicht abzusehen. Das Gesetz soll zwar unter anderem Menschen mit einer
       Berufsausbildung im Herkunftsland und der Aussicht auf einen Arbeitsvertrag
       die Einreise ermöglichen, auch wenn ihre Qualifikation nicht unbedingt mit
       unserer hiesigen dreijährigen Berufsausbildung vergleichbar ist – das
       betrifft auch die Pflege. Trotzdem aber stellt sich die Frage: Wie
       attraktiv sind wir?
       
       Da die [2][Arbeitsmigration] aus der EU stockt, auch dort gibt es
       demografische Probleme, setzt man auf Drittstaaten. Dort ist die
       Bevölkerung oftmals relativ jung. Nur: Junge Arbeitsmigrant:innen aus
       den Philippinen, Mexiko oder Indien entscheiden sich gerne für ein
       englischsprachiges Land wie Kanada oder Australien. Der Aufwand ist
       geringer.
       
       „Der Spracherwerb ist das Aufwendigste“, sagt Wolfgang Kreis. Er ist
       Geschäftsführer der Vermittlungsagentur Becon aus dem schwäbischen
       Gerlingen. Die Agentur wirbt in vielen Ländern außerhalb der EU
       Pflegefachkräfte an, versorgt sie schon im Heimatland mit einem Sprachkurs
       und vermittelt sie dann an Auftraggeber in Deutschland, zu 60 Prozent an
       Kliniken, zu 40 Prozent an Altenheime.
       
       Die von der Becon vermittelten Pflegekräfte haben eine gute fachliche
       Ausbildung, in vielen Drittstaaten ist die Krankenpflege ein
       Bachelor-Studium, die Absolvent:innen gehören dort meist der
       Mittelschicht an. „In Iran, Mexiko, Indien herrscht ein sehr hohes
       Ausbildungsniveau“, sagt Kreis.
       
       ## Hürden bei der Anerkennung
       
       Der Weg nach Deutschland ist trotzdem lang. Der Sprachkurs vor der Einreise
       nach Deutschland dauert etwa ein halbes Jahr, in Vollzeit, um auf das für
       die Einreise erforderliche Mindestniveau von B1 zu kommen. Macht also schon
       mal den Vorlauf eines Bachelor-Studiums plus sechs Monate Deutsch-Paukerei.
       
       Reist die Pfleger:in von den Philippinen, [3][aus Mexiko] oder Indien
       dann ein, muss sie hier noch das Anerkennungsverfahren zur Pflegefachkraft
       durchlaufen. Das dauert in der Regel nochmal ein Jahr, in dem sie oder er
       nur als Pflegehilfskraft arbeiten darf, entsprechend wenig verdient und
       sich dabei nachqualifizieren muss, etwa beim Wissen über die Geriatrie. Und
       dann die Sprache. Das Niveau B2 ist für eine Fachkraft erforderlich, das
       heißt, man muss sich einigermaßen flüssig verständigen können, auch mit
       Fachbegriffen.
       
       In Deutschland erst mal nur als Pflegehilfskraft zu arbeiten ist finanziell
       nicht verlockend. „Die Lebenshaltungskosten sind sehr hoch, das mindert die
       Attraktivität von Deutschland“, sagt Kreis. Wer in einem Heim als
       Hilfskraft 1.500 Euro netto verdient und damit womöglich eine teure Wohnung
       in einer Metropole bezahlen muss, ist schnell ernüchtert. Viele
       Arbeitsmigrant:innen müssen zudem aus Deutschland Geld nach Hause
       schicken, auch um etwa noch Schulden durch das teure Studium zu tilgen.
       
       Zudem kommt es zu Ausbeutungen. Es gebe Heime, die Pflegekräfte aus
       Drittstaaten bewusst möglichst lange im Status der Hilfskraft halten, um
       Lohnkosten zu sparen, „das sind schwarze Schafe, mit solchen Einrichtungen
       sollte man als Agentur nicht zusammenarbeiten“, betont Kreis.
       
       ## Hürden nach der Anwerbung
       
       Für Kreis ist allerdings die Bürokratie vor der Einreise nach Deutschland
       das größte Problem. „Das ist die Todeszone“, sagt er und nennt ein Beispiel
       aus Baden-Württemberg: Wenn der Sprachkurs im Herkunftsland bis zum
       B1-Zertifikat absolviert ist und der Arbeitsvertrag etwa einer Klinik
       vorliegt, gehen die Unterlagen an das Regierungspräsidium in Stuttgart zur
       Qualifikations- und Zeugnisprüfung. Das Präsidium stellt einen sogenannten
       Defizitbescheid über die erforderliche Nachqualifizierung aus. Dann wandern
       die Unterlagen zur Ausländerbehörde wegen des Aufenthaltsrechts, dann zur
       Bundesagentur für Arbeit wegen der Prüfung der Beschäftigungsbedingungen.
       Am Ende reisen die Unterlagen an die Botschaft im Herkunftsland zur
       Visaerteilung. „Die Verfahren können sich bis zu einem Jahr hinziehen“,
       sagt Kreis.
       
       Oft antworteten die Ämter erst mal nicht, die Sachbearbeiter:innen
       würden die Gesetze nicht wirklich kennen, dann gebe es keine Termine bei
       den Botschaften, oder wenn, dann nur im Losverfahren. „Jede Behörde möchte
       die Unterlagen in Papierform, als beglaubigte Kopie, die Digitalisierung
       hat da noch nicht Einzug gehalten“, seufzt der Becon-Geschäftsführer. Mit
       dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz sollen diese Vorgänge zwar
       digitalisiert und beschleunigt werden, aber wie schnell das umgesetzt wird,
       ist fraglich.
       
       Kein Wunder angesichts dieser Hindernisse, dass mit der Einreise
       Hunderttausender Geflüchteter der Gedanke aufkam, doch einfach mit den
       Flüchtlingen, die schon hier sind, den [4][Personalmangel in der Pflege] zu
       bekämpfen. Doch ebenso wie es fragwürdig ist, wenn die alternden westlichen
       Wohlstandsgesellschaften die demografisch jungen ärmeren Länder anbaggern,
       anstatt ihre Arbeitsbedingungen auf dem Pflegemarkt zu verbessern, so
       könnte man es auch als fragwürdig ansehen, wenn traumatisierte Geflüchtete
       sich nun um hochbedürftige Alte hierzulande kümmern sollen, deren Sprache
       sie oft kaum beherrschen.
       
       In einem Projekt des Diakonie-Pflegeverbundes Berlin begannen in den Jahren
       2015/16 17 Geflüchtete – zwei Drittel davon Männer – einen Kurs zu
       Pflegehelfer:innen in ambulanten Diensten. Davon sei etwa ein Drittel
       in der Pflege geblieben, sagt Jenny Pieper-Kempf, Sprecherin des
       Pflegeverbundes. „Die Einarbeitungszeit war lang und betreuungsintensiv.“
       Das Projekt wurde nicht wiederholt. Im Jahr 2022 waren immerhin 20.000
       Personen aus den acht zuzugsstärksten Herkunftsländern der
       Asylbewerber:innen in der Pflege tätig. Vor 2015 waren es weniger als
       2.000 gewesen.
       
       Wie sich die Arbeitsmigration aus Drittstaaten entwickelt, wird von den
       bürokratischen Erleichterungen, den Bedingungen im Pflegebereich, der
       Umsetzung des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes und der
       Willkommenskultur in Deutschland abhängen. Denn wahr ist auch: Wer
       erfolgreich eingewandert ist, zieht Landsleute nach. Laut einem [5][Bericht
       der Bundesarbeitsagentur] leben rund 145.000 sozialversicherungspflichtige
       Pflegebeschäftigte aus Drittstaaten in Deutschland, Tendenz steigend.
       
       24 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR [5] https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Statistiken/Themen-im-Fokus/Berufe/Generische-Publikationen/Altenpflege.pdf?__blob=publicationFile
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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