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       # taz.de -- Literaturfestival in Cottbus: Mit dem guten Buch in den Park
       
       > Bei „Literatur auf der Parkbank“ wird natürlich gelesen. Vor allem aber
       > ist das Festival ein Gesprächsangebot für ein buntes Brandenburg.
       
   IMG Bild: Das Buch ist ein Gesprächsangebot und hat überall seinen guten Platz
       
       Cottbus taz | Der Goethe-Park ist im Vergleich mit anderen wie dem
       Fürst-Pückler-Park Branitz vielleicht nicht der schönste Park in Cottbus.
       Aber an diesem sonnigen Sonntag ist er der spannendste. Es ist wieder
       [1][„Literatur auf der Parkbank“, das kleine Festival], das 2019 im
       Berliner Tiergarten startete und dann nach Cottbus im Osten Brandenburgs,
       knapp 50 Kilometer entfernt von der Grenze zu Polen, umzog.
       
       Gleich am Eingang des Parks sind die leuchtend roten Sonnenschirme zu
       sehen. Sie zeigen die Bänke mit den kleinen Stuhlgruppen für die Zuhörenden
       an, wo die 30 Autor*innen auf 30 Parkbänken aus ihren Werken lesen – bei
       freiem Eintritt und zeitgleich, über vier Stunden und in selbst gesteckten
       Slots. Schon nach wenigen Minuten wird klar, was dieses Festival ausmacht.
       Unter den Besucher*innen sind – anders als bei den Lesenden – keine zu
       finden, die aus einer anderen Stadt angereist wären. Hier wird nicht wie
       bei großen Festivals um Tourist*innen geworben, sondern um jene, die
       hier leben.
       
       ## Um ins Gespräch zu kommen
       
       Gefördert wurde das Festival von Institutionen des Bundes, organisiert in
       Zusammenarbeit mit Institutionen der Stadt wie dem [2][Landesmuseum für
       Moderne]. Das Ziel liegt auf der Hand: Cottbus hat noch immer eine starke,
       gut vernetzte [3][rechtsextreme Szene]. Es gibt aber auch ein anderes, ein
       buntes Cottbus, das mit diesem Festival mobilisiert und ins Gespräch
       verwickelt werden soll.
       
       Schon beim ersten Sonnenschirm wird klar: Das ist gelungen. Hier ist
       tatsächlich ein Mix aus jungen Leuten um die Zwanzig, Eltern mit
       Kinderwagen und Menschen über 60 unterwegs, manche bleiben auch mal durch
       Zufall an einer der Bänke hängen. Vor allem aber ist an vielen der Leseorte
       die Lesung nur halb so wichtig wie das Gespräch, das sich dabei entspinnt.
       
       An der Bank von [4][taz-Kollege Daniel Schulz] zum Beispiel, der aus seinem
       2022 erschienen Roman „[5][Wir waren wie Brüder]“ liest, bleiben mal zehn,
       mal fünfzehn Leute hängen. Es geht ums Aufwachsen eines Jungen auf dem Land
       im Osten Deutschlands, in den Jahren nach der Wende, geprägt von Rassismus
       und Gewalt.
       
       In den Gesprächen dazwischen herrscht großes Mitteilungsbedürfnis. Eine
       Frau in den Zwanzigern berichtet, sie sei in einer Kleinstadt in Sachsen
       aufgewachsen, und da sei es vor zehn Jahren noch genauso zugegangen wie in
       Schulz’ Roman. Von 100 Kindern 15 Nazis und 15 Linke, der Rest dazwischen
       auf der Seite der Nazis. „Die Drohung, verprügelt zu werden, war immer und
       überall“, sagt sie – und es entspinnt sich ein interessantes Gespräch
       darüber, ob junge Frauen dem nun mehr oder weniger ausgesetzt sind als
       junge Männer.
       
       ## Marienkäfer im Buch
       
       Die Linden duften, die Amseln singen, viele haben sich die Sandalen
       ausgezogen, beobachten zwischendurch die Eichhörnchen in den Baumkronen
       oder schnippen einen Marienkäfer aus ihrem Buch. Die Idee des Festivals, in
       entspannter Atmosphäre Literatur zu hören und darüber zu sprechen und die
       gute alte andachtsvolle Autor*innen-Lesung für alle zu öffnen, funktioniert
       auch dort, wo es nicht so direkt politisch zugeht.
       
       Turgut Altuğ, im Berliner Abgeordnetenhaus Sprecher der Grünen für
       Naturschutz, liest aus seinem Familienroman „Das verlorene andalusische
       Lied“ und findet seine Cottbuser Zuhörer*innen genauso wie Zaia
       Alexander, die aus ihrem modernen Hexenroman „Erdbebenwetter“ liest, der in
       ihrer Heimatstadt Los Angeles spielt und beiläufig um die Frage kreist, ob
       Herkunft überhaupt so wichtig ist.
       
       ## Unterschiedliche Echoräume
       
       Woanders geht es dann wieder kontroverser zu. Etwa dort, wo die Berliner
       Autorin und Fotografin Sarah Berger mit viel Verve aus ihrem 2020
       erschienenen Buch „Sex und Perspektive“ liest. Um erlernte
       Geschlechtergrenzen geht es darin, um den Wunsch, aus diesen auszubrechen,
       um Gespräche mit alleinerziehenden Müttern in der Care-Mühle und um
       Frauenärztinnen, die ihrer Patientin den Wunsch abschlagen, sich die
       Gebärmutter entfernen zu lassen.
       
       Zur offensichtlichen Überraschung der Autorin reagieren die grauhaarigen
       Frauen in der ersten Reihe, die sich als Cottbuser Sozialarbeiterinnen im
       Ruhestand vorstellen, mit Zustimmung. Sie gratulieren Berger zu ihrem Mut,
       zu ihrer Wut. Die angeblich bessere Stellung der Frau in der DDR? „Von
       wegen“, sagt die eine. „Ich habe eben nach der Arbeit Kinder und Haushalt
       gemacht.“ Kinder kriegen? „Ich verstehe nicht, warum wir so viele Kinder
       brauchen“, sagt die andere. „Seit meiner Geburt hat sich die
       Weltbevölkerung verdreifacht.“
       
       „Ich mag Menschen, die nicht nur in den eigenen Echoräumen unterwegs sind“,
       sagt der Erfinder des Festivals Eckhard Hündgen. 3.500 davon hat er mit der
       „Literatur auf der Parkbank“ in Cottbus erreicht.
       
       1 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.literatur-auf-der-parkbank.de/
   DIR [2] /Museumschefin-ueber-Cottbus-Kunst-AfD/!5898563
   DIR [3] /AfD-will-erste-Grossstadt-regieren/!5882472
   DIR [4] /Daniel-Schulz/!a119/
   DIR [5] /Romane-ueber-Jugend-in-Ostdeutschland/!5833587
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Susanne Messmer
       
       ## TAGS
       
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