URI: 
       # taz.de -- Journalistin über Kinderverschickung: „Man hätte die Akten finden können“
       
       > Die Kinderverschickungen in BRD und DDR haben viele Betroffene
       > traumatisiert. Lena Gilhaus hat ein Buch und einen Film dazu gemacht.
       
   IMG Bild: Solebad in der ehemaligen Kinderheilanstalt Bad Sassendorf
       
       taz: Frau Gilhaus, beinahe zeitgleich erscheinen Ihr Film und Ihr Buch über
       [1][Kinderverschickung]. Das Buch holt historisch weiter aus. Im Film
       begleiten Sie Ihren Vater und Ihre Tante nach Sylt, wo beide 1967 zur
       Kindererholungskur waren. Sie treffen ehemalige Verschickungskinder und
       Angehörige, die sich mit Ihnen auf die Suche begeben. Entstand zuerst die
       Idee für den Film oder für das Buch? 
       
       Lena Gilhaus: Die Buchidee war zuerst da. Nach meinem ersten Radiobeitrag
       zum Thema, 2017, gab es enorm viele Rückmeldungen, und alle fragten, warum
       es keine Literatur, mehr Berichte dazu gäbe. Richtig groß und bekannt wurde
       das Thema aber erst 2019 durch die Aktivitäten der Bundesinitiative der
       Verschickungskinder. Die Vorstellung, mit meinem Vater nach Sylt zu fahren,
       kam für diesen Film erstmals auf, und die Geschichten der anderen
       Protagonisten, die ich inzwischen seit Jahren begleite, darin zu erzählen.
       
       Sie haben zu den Ihnen bekannten Fällen weiter recherchiert? 
       
       Ja, aber erst, als sich die Archive geöffnet haben, konnte ich richtig
       loslegen. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, einst die größte
       Kinderfahrtmeldestelle, hat ja zunächst abgestritten, dass dort Akten
       liegen würden. Erst seit zwei, drei Jahren wusste ich, wo und wonach ich
       suchen soll.
       
       Sie gehen von etwa 15 Millionen Kindern in BRD und DDR aus, die verschickt
       wurden, viele zur Erholung, nicht aus medizinischen Gründen. [2][Warum
       wurden massenhaft gesunde Kinder verschickt?] 
       
       Es gab Heilkuren für Kinder, die Asthma oder Neurodermitis hatten. In die
       Erholungskur fuhren Kinder, die überwiegend gesund waren. Wer bei der
       Schuleingangsuntersuchung als zu dünn oder nicht groß genug befunden wurde,
       bekam einen Erholungsaufenthalt als Indikation. Dieses vordergründige
       Versprechen eines „gesunden“ Urlaubs am Meer oder in den Bergen
       verschleierte die Idee dahinter, sogenannte milieugeschädigte Kinder eine
       Zeit lang aus den Familien herauszunehmen. Im Grunde handelte es sich um
       eine staatliche Intervention der Jugendbehörden.
       
       Sie sprechen im Film an, dass die Kinderkuren keine Erfindung der Nazis
       waren. Die Kuren knüpften an die Sozialpolitik und Sozialfürsorge in der
       Weimarer Republik an? 
       
       Eigentlich noch früher. Mit der Industrialisierung entstanden die
       Anstaltswelten, in denen sich unser Leben heute überwiegend abspielt. Die
       Eltern sollten in die Fabriken und arbeiten. Aber wohin mit den Kindern?
       Die mussten verwahrt werden. Damals entstanden Betreuungseinrichtungen, die
       Schulpflicht wurde eingeführt. Zugleich gingen neue Krankheiten um:
       Skrofulose, Tuberkulose. Damals kam die Idee von Luft- und Klimakuren auf,
       um die Menschen aus diesen schädlichen urbanen Milieus rauszuholen.
       
       Warum konnten sich Elemente der Schwarzen Pädagogik in den Kinderkurheimen
       der 1950er, 1960er Jahre so ungebrochen fortsetzen? 
       
       Die Menschen, die in den 50er und 60er Jahren Kinder erzogen haben, hatten
       ja die NS-Zeit und den Krieg erlebt! Eine ganze Gesellschaft verdrängte
       ihre Schuld und ihre Traumata, denn eine Kultur der Härte, der
       Unterdrückung von Gefühlen gab es schon lange. Kinder sollten nicht
       „verzärtelt“ werden, sie sollten sich in eine Gemeinschaft einfügen, zur
       Not mit Druck und Gewalt. Diese Erziehungsideale der Schwarzen Pädagogik
       hatten mehrere Generationen vorher geprägt, die den Nationalsozialismus
       wahrscheinlich überhaupt erst ermöglicht haben, und sind natürlich nicht
       einfach mit Kriegsende weg. Fälschlicherweise wird repressive Pädagogik
       häufig „Nazi-Pädagogik“ genannt. Aber die Nationalsozialisten hatten die
       Schwarze Pädagogik nicht erfunden. Baldur von Schirach, Reichsjugendführer,
       wollte die Schwarze Pädagogik – wohlgemerkt nur gegenüber den sogenannten
       arischen Kindern – sogar überwinden, um eine emotionale Bindung zum
       „Führer“ aufzubauen und die Familien zu indoktrinieren.
       
       Wie konnten in den Kinderkurheimen von BRD und DDR so große rechtsfreie
       Räume entstehen? Es waren doch wahnsinnig viele Institutionen, Verbände,
       Behörden beteiligt, die hätten kontrollieren können. 
       
       Ich würde differenzieren: Nicht alle Kinderkurheime waren Orte der schweren
       Gewalt gegenüber Kindern. Die Maßnahme der Verschickung finden wir aus
       heutiger Perspektive höchst fragwürdig. Die Schwarze Pädagogik fand aber
       auch in Schulen, in den Elternhäusern statt, und es gab es auch Eltern, die
       ihre Kinder deswegen dahin geschickt haben, weil sie das als
       Erziehungsanstalt erkannt haben. Gleichzeitig boten die Heime aber ein
       großes Einfallstor für Machtmissbrauch: weil die Heime teilweise irgendwo
       in der Fremde, weit entfernt vom Elternhaus der Kinder und häufig örtlich
       abgeriegelt lagen und es kaum staatliche Kontrollen gab.
       
       Die Abgelegenheit solcher Institutionen ist ein altes Konzept. 
       
       Arbeits- und Waisenhäuser gab es schon lange vorher. In den Kinderkurheimen
       stand in der Nachkriegszeit sehr wenig Personal zur Verfügung, und es waren
       meist Frauen, die dort Tag und Nacht arbeiteten. Oft waren 20 Kinder einer
       Person zugeteilt, die sich rund um die Uhr kümmerten. Sie mussten außerdem
       Nachtschichten machen. Wie will man für die Sicherheit von 25 Kindern als
       Einzelperson sorgen, wenn man keine strengen Regeln festlegt? Es gab
       Ertrinkungsfälle, wo eine Erzieherin mit 47 Kindern baden gegangen ist. Wer
       hat das veranlasst? Wer vorhatte, Kindern Gewalt anzutun und sich da
       auszuleben, der war sicher eingeladen, in so ein Kinderkurheim zu gehen.
       
       In Ihrem Film erzählen Sie das Schicksal eines Mannes, der von einem
       Erzieher missbraucht worden ist und sich als Erwachsener das Leben genommen
       hat. Wieso konnte man den Täter bis heute nicht belangen? 
       
       Wir kennen mittlerweile zwei Fälle, die mutmaßlich Opfer dieses Erziehers
       wurden. Kontrollen gab es sehr wenig. Im Jugendwohlfahrtgesetz ist alle
       zwei Jahre eine Kontrolle durch die Behörden festgelegt gewesen. Die
       Kontrolle an sich funktionierte nur durch Meldung der Heime an die
       Behörden. Sie mussten auch Verletzungen melden, die aber durchgehend
       „Unfall“ genannt wurden. Dass Verletzungen durch Gewalteinwirkung zustande
       gekommen sein könnten, diese Idee gab es gar nicht. Die Akten, die ich
       gelesen habe, haben immer den Eindruck eines ganz bewussten Wegschauens,
       vielleicht auch Nicht-Wahrhabenwollens hinterlassen.
       
       Wie lief die Aufarbeitung für die Heime der Thuiner Franziskanerinnen, die
       im Film eine wichtige Rolle spielen? 
       
       Sie hatten recherchiert, mit dem Ergebnis, dass die Akten vernichtet seien.
       Aber Sie sehen ja im Film, dass es sehr wohl Akten gibt. Ein Glücksfund im
       Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Die Akten bezeugen unter
       anderem, dass ein Kind gestorben ist, ein anderes hinkend nach Hause kam.
       Die Franziskanerinnen hätten sehr wohl Akten finden können, wenn sie
       gesucht hätten. Ich möchte aber anerkennen, dass sie sich seit Jahren
       meinen Fragen stellen, und das ist vorbildlich im Vergleich zu vielen ihrer
       männlichen Kollegen in der katholischen Kirche.
       
       2 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Misshandlungen-in-der-Kinderverschickung/!5926733
   DIR [2] /Kuraufenthalte-von-Kindern/!5818643
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Seifert
       
       ## TAGS
       
   DIR DDR
   DIR Dokumentarfilm
   DIR GNS
   DIR Geschichte
   DIR Recherche
   DIR BRD
   DIR Kinderverschickung
   DIR Kinderverschickung
   DIR Kinderverschickung
   DIR Gewalt gegen Kinder
   DIR Kindererziehung
   DIR Kur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Studie über Kinderverschickungen: Erinnerungen, die für immer bleiben
       
       Ein Kieler Team erforscht Historie der Kinderverschickung nach St.
       Peter-Ording. Das ist bundesweit ein Novum, lange wurde über das Thema
       geschwiegen.
       
   DIR Verschickungskinder beim Roten Kreuz: Wer weint, wird eingesperrt
       
       Schleswig-Holsteins Rotes Kreuz ließ Misshandlung von Verschickungskindern
       erforschen. In den Heimen gab es vor allem psychische Gewalt.
       
   DIR Misshandlungen in der Kinderverschickung: Viel zu späte Aufarbeitung
       
       Unzählige Kinder haben Gewalt in Kurheimen erlebt. Die Bundespolitik
       entzieht sich der Aufarbeitung. Nun konstituierte sich in NRW ein Runder
       Tisch.
       
   DIR Historiker über Säuglingsheime: „Jeder wusste, dass es sie gibt“
       
       Die Geschichte der Säuglingsheime in Deutschland ist dramatisch, sagt
       Historiker Felix Berth. Eine Million Kinder in Ost und West waren sich
       nahezu selbst überlassen.
       
   DIR Kinderkuren in der DDR: Am Anfang war die Tat
       
       Was im Westen die Kinderverschickung war, hieß in der DDR Kinderkur. Viele
       erlebten dort sexualisierte Gewalt. Geglaubt hat ihnen lange niemand.