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       # taz.de -- Buch über russischen Bürgerkrieg: Wagner am Stillen Don
       
       > Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es. Antony Beevors Gesamtschau
       > über den Russischen Bürgerkrieg enthält dennoch viele aktuelle
       > Parallelen.
       
   IMG Bild: Beim Vorrücken der Wagner-Truppe erinnerte Putin an den Zusammenbruch des Zarenreichs
       
       Bekanntlich nannte Wladimir Putin den Untergang der Sowjetunion die größte
       Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Der Angriff auf die Ukraine sollte sie
       ungeschehen machen und signalisierte anderen Gebieten der Ex-Sowjetunion,
       die 1991 ff. ihre Unabhängigkeit erkämpft haben, wie prekär ihre
       Souveränität sei.
       
       Im Fernsehauftritt beim Vorrücken der [1][Wagner-Truppen Jewgeni
       Prigoschins] auf Moskau erinnerte Putin an einen früheren historischen
       Zusammenbruch: den des Zarenreiches 1917 im Russischen Bürgerkrieg, der zu
       Gebietsverlusten und 1922 zur Gründung der Sowjetunion führte. Da die
       Machtfantasien der russischen Führung stets mit amateurhistorischen
       Analogien unterfüttert sind, dürfte auch diese Reminiszenz bewusst gewählt
       gewesen sein.
       
       Im März 1917 dankte Zar Nikolaus II. nach der Bildung einer Provisorischen
       Regierung ab, am 7. November starteten die Bolschewiki die
       Oktoberrevolution und übernahmen die Macht. Ein Jahr später musste Wladimir
       Iljitsch Lenin den nach Waffenstillstandsverhandlungen mit Deutschland,
       Österreich-Ungarn, der Türkei und Bulgarien geschlossenen „Diktatfrieden“
       von Brest-Litowsk akzeptieren und die Abtretung Polens, der baltischen
       Staaten, Finnlands und der Ukraine hinnehmen.
       
       Das Zarenreich war zur Russischen Sozialistischen Föderativen
       Sowjetrepublik (RSFSR) geschrumpft, im Juli 1918 wurde die Zarenfamilie
       ermordet, für Putin ein Verbrechen. Nicht das bolschewistische Russland ist
       seine Referenz, sondern das zaristische Imperium.
       
       ## Brutaler Bürgerkrieg
       
       Warum erinnerte er in seiner Ansprache daran? Der bis 1921 andauernde, auf
       beiden Seiten mit ungeheuerlicher Brutalität geführte Bürgerkrieg ist in
       zahlreichen großen Epen – wie Michael Scholochows Roman „Stiller Don“ –
       geschildert worden.
       
       Er kostete zwölf bis dreizehn Millionen Opfer, darunter vielerorts
       Hungertote, hinterließ im gesamten Zarenreich Waise, Versehrte, Flüchtlinge
       und Heimatlose, löste eine Massenemigration von rund drei Millionen
       adeligen, bürgerlichen und intellektuellen Russen aus und legitimierte den
       Ausnahmezustand, der letztlich in die Stalin’sche Diktatur führte. Im
       europäischen Teil endete der Bürgerkrieg im November 1920 mit dem Sieg der
       Roten Armee über die weißen Truppen auf der Krim.
       
       Diese traumatische Entwicklung breitet der Militärhistoriker Antony Beevor,
       der Bücher zum Spanischen Bürgerkrieg, zu den Schlachten von Stalingrad,
       Arnheim und in den Ardennen, zum D-Day und zum Fall der Reichshauptstadt
       Berlin vorgelegt hat, auf knapp 700 Seiten in epischer Breite aus. Dazu hat
       er vor allem russische Archive und Quellen benutzt. Trotz der wechselnden
       Schauplätze, unzähligen Akteuren und chaotischen Wendungen behält man den
       Überblick, weil Beevor ein glänzender Erzähler ist.
       
       Der vielfach ausgezeichnete Brite ist nicht der Erste, der über den
       Bürgerkrieg geschrieben hat, aber sein Buch kommt zur rechten Zeit, weil
       dieses Kabinett der Grausamkeiten die Leser erahnen lässt, welchen Untiefen
       die Gewaltbereitschaft der Z-Armee entstammt; und wie es eine Petersburger
       Clique nach bolschewistischem Muster gelingen konnte, sich ein Riesenreich
       gefügig zu machen.
       
       ## Demokratie abgewehrt
       
       Es ist, auch wenn sich Geschichte nie wiederholt und wenig lehrt,
       unmöglich, darin kein aktuelles Buch zu sehen. „Bruderkriege sind aus
       dreierlei Gründen zwangsläufig grausam: weil es keine definierbaren Fronten
       gibt, weil sie sich sofort auf die Zivilbevölkerung ausdehnen und weil sie
       furchtbaren Hass und schreckliches Misstrauen hervorrufen“, schreibt Beevor
       und man wundert sich, wieso Linke der Oktoberrevolution oder Rechte dem
       weißen Widerstand jemals (und sei es sub specie aeternitatis) Positives
       abgewinnen konnten.
       
       Den ersten Versuch der Demokratie haben in Russland die Kommunisten
       abgewürgt, Putin den zweiten nach 1990. Wer solche analytischen
       Querverweise sucht, kommt bei Beevor allerdings nicht auf seine Kosten.
       
       Eine Episode sei herausgegriffen, die mir für die Erklärung der jüngsten
       Vorfälle signifikant erscheint. Im Mai 1918 fiel ein tschechoslowakisches
       Bataillon bei den Bolschewiki in Ungnade, das bis 1917 an der Seite
       Russlands gegen die Mittelmächte gekämpft hatte und nach dem
       Friedensschluss auf dem langen Umweg über Sibirien den Kampf an der
       Westfront weiterführen wollte – ihr Ziel war die Herauslösung der
       unabhängigen Tschechoslowakei aus dem habsburgischen „Völkergefängnis“.
       
       Leo Trotzki ordnete als Volkskommissar für Militärangelegenheiten an, die
       ausländische Truppe unverzüglich zu entwaffnen und gefangen zu nehmen – die
       Rede war, wie jetzt bei Putin, von „ehrlosem Verrat“. Das freie Geleit, das
       ihnen zugesagt war, wurde gegenstandslos.
       
       ## Auf Seite der „Weißen“
       
       Die bis zu 50.000 Mann starken Tschechoslowaken stellten sich auf die Seite
       der „Weißen“, ein heterogenes Konglomerat von Revolutionsgegnern, auch aus
       westlichen Ententemächten, die der Sowjetdiktatur trotzten.
       
       „Unter dem Schutz tschechoslowakischer Bajonette begehen lokale russische
       Militäreinrichtungen Taten, die die gesamte zivilisierte Welt schockieren.
       Sie brennen Dörfer nieder, ermorden friedliche russische Bürger zu
       Hunderten, erschießen Demokraten ohne Gerichtsverfahren, nur aufgrund des
       Verdachts politischer Illoyalität.' Sie verlangten, heimkehren zu dürfen
       und von der Verantwortung befreit zu werden, in solche Verbrechen
       verwickelt zu sein“, zitiert Beevor eine zeitgenössische Quelle.
       
       In der [2][kollektiven Erinnerung der Russen] ist der Bürgerkrieg weder
       wissenschaftlich aufgearbeitet noch erinnerungskulturell eingeordnet
       worden. Es dominiert der „Große Vaterländische Krieg“ gegen das
       nationalsozialistische Deutsche Reich (1941–1945), der ja mit einer
       perversen Geschichtsklitterung den Angriff auf die angeblichen „Neo-Nazis“
       in der Ukraine legitimieren soll.
       
       Umso interessanter ist, dass Putin auf diese historische Epoche anspielte,
       um eine von ihm lange genutzte Söldner-Miliz als Vaterlandsverräter und
       Terroristen zu attackieren. Wer so unverblümt an den Bürgerkrieg erinnert,
       fürchtet ihn im eigenen Land, und Prigoschins Группа Вагнера ist nicht die
       einzige Privatarmee, die im Diadochenkampf der Silowiki eine Rolle spielen
       dürfte.
       
       9 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
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