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       # taz.de -- Chorsingen im Berliner Schloss: Eine emotionale Ansprache
       
       > Im Humboldt Forum im Berliner Schloss durfte man sich, wo man singt,
       > ruhig niederlassen. Schließlich ist Singen eine vertrauensbildende
       > Maßnahme.
       
   IMG Bild: Singing in the rain im Schlüterhof des Berliner Schlosses
       
       Jetzt stellt man sich zur Einstimmung vielleicht vor, wie ein Kind in den
       Schlaf gesungen wird. Diese unmittelbare Nähe. Es ist die menschliche
       Stimme, die sie herstellt. Mit dem Singen als eine emotionale Ansprache,
       der man sich nur schwer entziehen kann.
       
       Singen geht einen an. Ergreift einen. Rührt was im Menschen.
       
       Und wenn man nun zu der singenden Person ein paar weitere dazu stellt, die
       mitsingen, hat das schon mathematisch noch mehr Wumms in der Ansprache –
       auch wenn das In-den-Schlaf-Singen so geballt im Chor wohl nicht mehr recht
       klappen wird.
       
       Der Zufall jedenfalls wollte es, dass es eine Woche der Chöre wurde.
       Angefangen hatte es auf der Dachterrasse der taz, wo zum Abschied eines
       langjährigen Kollegen (ach, Bert …) der taz-Chor mit Hingabe ein paar
       abschiedswehe Lieder sang. Zwei Tage später gab es im vokalen
       High-End-Segment den Rias-Kammerchor in der Philharmonie mit
       Marienbeschwörungen zu erleben, so schmerzlich-schön mit einem toffeezarten
       Schmelz gesungen, dass man wenigstens ein Konzert lang unbedingt daran
       glauben wollte, dass der Katholizismus auch seine einnehmenden Seiten hat.
       Und am Wochenende wurde schließlich im Humboldt Forum im Berliner Schloss
       gesungen, um [1][diesem Klotz in der Mitte Berlins], das den Touristen als
       Vintage-Barock verkauft wird, wenigstens etwas an menschlichem Maß
       abzuringen.
       
       „Das Forum einsingen“ war das Motto, über das ganze große Humboldt Forum
       verteilt – in den Höfen, auf den Fluren, in den Ausstellungsräumen – waren
       singende Menschen zu hören.
       
       ## Ein Chor in den besten Jahren
       
       Zweitausend Chöre soll es in Berlin geben, über 300 sind im Berliner
       Chorverband, der die Veranstaltung mit organisiert hat, organisiert, ein
       knappes Dutzend präsentierte sich im Schloss.
       
       Beim Männerchor Eintracht 1892 Berlin-Mahlsdorf zeigte sich dabei, schaute
       man in die Gesichter der Sänger, auch gleich ein Problem des Chorgesangs:
       Bestenfalls zwei oder drei der Sänger durfte man den gern so genannten
       besten Jahren zurechnen, der große Rest zeigte sich etliche Jährchen
       darüber hinaus. Dem im Verein organisierten deutschen Volksliedchorgesang
       fehlt es also am Nachwuchs. Zuhörer hatte er durchaus. Manche wiegten sich
       andächtig im „Hallo im grünen Wald“ und zur „Berliner Luft“. Möglicherweise
       war das bereits ironisch gebrochen.
       
       Andererseits pflegt man in Berlin aber auch die Traditionen mit einer
       Sorgfalt, die anderswo, wo sie mal ihren Ursprung hatten, bereits verloren
       gegangen ist. Man braucht die Großstadt ja schon deswegen, weil hier
       mittlerweile die Provinz am besten konserviert wird und sich selbst bei
       Minderheitenprogrammen noch genügend Gleichgesinnte treffen, die ansonsten
       in der Welt einsam bleiben würden. So gab es nur ein paar Treppenstufen
       weiter nach der Eintracht das sechsköpfige Ensemble Polýnushka mit
       osteuropäischen Liedern zu hören. Das Vokalensemble Sakura gab – mit
       Kimonos entsprechend folkloristisch eingepackt – japanische Lieder zum
       Besten, die in Tempo und Melodie jetzt auch nicht ganz anders klangen als
       die deutschen Volkslieder, die man vorher mit dem Männerchor gehört hatte.
       
       Ihr Publikum haben an diesem Wochenende alle Chöre gefunden, mal mehr, mal
       weniger. Wenn man was nicht so toll fand, hörte man sich einfach weiter zum
       nächsten Chor (und zu gucken gibt es mit den Ausstellungen im Humboldt
       Forum auch genug).
       
       Einen richtigen Run aber gab es erst am Samstagabend beim Mitsingformat
       Sing dela Sing. Der Hof war brechend voll, die Zugänge waren von allen
       Seiten mit langen Schlangen von Menschen belagert in der Hoffnung,
       vielleicht doch noch reinzukommen zu diesem kollektiven Karaoke. Selbst der
       einsetzende Regen konnte sie nicht verscheuchen. Da wurden dann halt die
       Schirme ausgepackt. Weiter gewartet.
       
       Es ist eben so: Der Mensch will gar nicht mehr zuhören. Er will lieber
       selber machen. Selber singen für den Spaß. Nicht besungen werden.
       
       7 Jul 2023
       
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