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       # taz.de -- Aktivistin über Ägypten unter al-Sisi: „Das System basiert auf Angst“
       
       > Was bedeutet es, zehn Jahre unter Ägyptens Militärdiktatur zu leben?
       > Sanaa Seif spricht über Wut, Widerstand und ihre Erwartungen an den
       > Westen.
       
   IMG Bild: Die politische Aktivistin Sanaa Seif
       
       wochentaz: Sanaa Seif, vor zehn Jahren entmachtete Ägyptens Militär unter
       dem heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi die Muslimbrüder, die nach
       der Revolution von 2011 an der Macht waren. In Kairo herrschte
       Volksfeststimmung. Was haben Sie an dem Tag gemacht? 
       
       Sanaa Seif: Ich ging zum Tahrir-Platz, um die Menge zu beobachten. Ich
       hatte Angst und war enttäuscht. Klar, Revolutionen funktionieren nicht
       immer. Aber dieser Tag war bitter, weil wir als Demokratiebewegung nicht
       nur von Politikern besiegt wurden. Normale Leute gingen für Sisi auf die
       Straße. In der U-Bahn sprach damals eine Frau über Sisi. Als ich skeptisch
       guckte, sagte sie: Die Revolutionsjugend hat ihren Job erledigt, jetzt sind
       die Erwachsenen dran. Ich dachte, das war’s für mich mit der Politik.
       
       Warum kam es anders? 
       
       Mein Bruder Alaa wurde festgenommen. Wäre das nicht gewesen, hätte ich
       meinen Klassenstatus und meine Privilegien genossen.
       
       Ihr Bruder Alaa Abdel Fattah sitzt seit 2014 fast ununterbrochen in Haft.
       Haben Sie Kontakt? 
       
       Ich sehe ihn einmal im Monat. Hinter einer Glasscheibe mit Lautsprechern.
       
       Während der UN-Klimakonferenz COP27 im November in Scharm al-Scheich trat
       er in einen Hungerstreik. Wie geht es ihm? 
       
       Seine Zelle hat jetzt ein Fenster, er kann Musik hören, hat TV. Nach der
       COP haben wir in der Familie überlegt, ob Alaa nochmals in den Hungerstreik
       treten soll. Aber als wir erfuhren, dass meine Schwester schwanger war,
       beschlossen wir, nicht an Hungerstreik zu denken, sondern an das Baby.
       
       Was ist aus Ägypten geworden seit Sisis Machtübernahme? 
       
       Dieses Regime hat unser Land verwüstet. Die meisten, die Sisi
       unterstützten, bereuen das. Wir haben früher schon in einer Diktatur
       gelebt, aber nicht in einer so rigiden. [1][Die Wirtschaft ist im freien
       Fall], der [2][öffentliche Raum abgeriegelt]. Man spürt, dass etwas sehr
       Destabilisierendes am Werk ist. Irgendwas wird passieren, und ich habe
       Angst, dass es kein netter Arabischer Frühling sein wird. Das Land ist
       voller Wut. Aber es gibt kein Ventil, um diese Energie auf positive Weise
       rauszulassen.
       
       Warum entspringt aus dieser Energie nicht erneut Aufstandspotenzial? 
       
       Aufstände passieren nicht einfach so. 2011 gab es eine breite Basis, heute
       fehlt jede politische Grassroots-Organisation. Uns droht ein Teufelskreis:
       Sisi wird mit Instabilität drohen, und der Westen wird sie als Ausrede
       nutzen, um ihn weiterhin zu unterstützen.
       
       Wenn selbst Sie nicht mehr an Revolution glauben, warum werden dann Leute
       wie Ihr Bruder und Sie ins Gefängnis geworfen? 
       
       Das System basiert auf Angst. Alaa gehen zu lassen, wäre ein Zeichen von
       Schwäche. Das Regime hat sich Leute gesucht, um Exempel zu statuieren. Auf
       der islamistischen Seite waren es die Führer der Muslimbruderschaft, auf
       der säkularen war Alaa einer der Unglücklichen.
       
       Es hätte andere treffen können? 
       
       Natürlich ist meine Familie prominent, vor allem aber, weil sie uns
       benutzen. Das alles ist ein Werk des Regimes. Wenn man in die Enge
       getrieben wird, wehrt man sich und wird zu einem Symbol des Widerstands.
       Das Ganze ist aus dem Ruder gelaufen.
       
       Ihre Familie hatte keine Wahl? 
       
       Entweder sprechen wir offen oder gehen kaputt.
       
       [3][Sie saßen von 2020 bis 2021 im Gefängnis. Ihnen wurde sogar Terrorismus
       vorgeworfen.] 
       
       Am Ende wurde ich aber nicht deswegen verurteilt [sondern u. a. wegen
       „Verbreitung von Falschinformationen“; Anm. d. Red.). Aber mein Prozess
       fand vor Terrorismusgerichten statt. Ich habe die Antiterrormaschinerie von
       innen gesehen. Das hat mich zur Überzeugung gebracht, dass das Regime
       inkompetent ist. Sie kämpfen gegen die falschen Leute.
       
       Was meinen Sie? 
       
       Ein Beispiel: In der U-Haft steckten sie mich in einen unterirdischen
       Käfig. In diesen Käfigen waren auch andere, denen Terrorismus vorgeworfen
       wurde. Eine Frau erzählte, sie sei vom „Islamischen Staat“. In der Szene
       weiß man: Wer sich stellt und Informationen preisgibt, wird verschont.
       Diese Frau wusste, wo Waffen lagern. Als ich sie traf, war sie länger als
       ein Jahr im Gefängnis, aber niemand hatte ihre Aussage aufgenommen.
       Stattdessen holten sie mich ab, der Staatsanwalt verhörte mich stundenlang.
       Ich sagte, da unten sitzt eine Frau mit Informationen – warum verschwenden
       Sie Ihre Zeit? Ich war immer pessimistisch, was ägyptische Behörden angeht,
       aber ich wusste nicht, dass sie so inkompetent sind.
       
       Nach Ihrer Freilassung sprachen Sie auf der COP27 über Ihren Bruder, was
       international Schlagzeilen machte. War das ein Erfolg? 
       
       Jein. Für einen Moment standen die [4][Menschenrechte in Ägypten im
       Mittelpunkt.] Dabei hatte ich befürchtet, dass mich niemand wahrnimmt.
       
       Aber? 
       
       Meine Pressekonferenz hat sehr viel Verantwortung mit sich gebracht. Andere
       Gefangene in Ägypten schauen jetzt auf den Kampf meiner Familie, denn mein
       Auftritt wurde auch im Inland aufgegriffen. Ein Parlamentsabgeordneter
       versuchte mitten in der Pressekonferenz zu stören. Er wurde vom
       UN-Sicherheitspersonal aus dem Raum eskortiert und schrie: Ich bin hier auf
       ägyptischem Boden! Ein Video davon ging in Ägypten viral, auch die
       Inlandspresse berichtete. Das hat mir Angst gemacht. Ich hatte nach meiner
       Entlassung aufgehört, mich in Ägypten aktiv zu engagieren. Es schien in
       Ordnung zu sein, das Regime international zu blamieren. Die rote Linie ist,
       wenn das ägyptische Volk internationale Blamagen aufgreift.
       
       Warum? 
       
       Sisi übt seine Macht auf uns Ägypter aus, indem er zeigt, wie fest seine
       Allianzen sind mit Saudi-Arabien, den USA, Israel, Deutschland, Russland.
       Die Unterstützung braucht er, um zu zeigen: Er sitzt fest im Sattel.
       
       Bekommen Sie in Ägypten auch Unterstützung? 
       
       Die Leute haben Angst, aber die Reaktionen auf der Straße sind positiv. Vor
       Kurzem auf einem Markt erkannten mich die Verkäufer und weigerten sich, von
       mir Geld anzunehmen. Oder im Flugzeug: Der Flugbegleiter fragte immer
       wieder, ob ich etwas trinken möchte. Ich bestellte Tee, auf der Serviette
       stand „Freiheit für Alaa“.
       
       Wie sehen Sie Deutschlands Rolle in Bezug auf Ägypten? 
       
       Ich sehe westliche Regierungen kritisch, aber die aktuelle Bundesregierung
       ist im Vergleich zu früheren um einiges besser, auch wenn das noch kein
       großes Verdienst ist. Die Grünen bemühen sich. Bis jetzt hat es noch keine
       wahnsinnig großen Waffendeals gegeben. Dennoch: Wir brauchen mehr Druck.
       
       Was sollte Deutschland tun? 
       
       Die Zusammenarbeit mit der ägyptischen Polizei zu beenden wäre einfach.
       
       Was noch? 
       
       Die ägyptische Diaspora in Deutschland schützen. Die ägyptische Botschaft
       überwacht Ägypter. Die Behörden haben hier viel mehr Freiraum, um
       Aktivisten einzuschüchtern, als in anderen Hauptstädten. Außerdem könnte
       Deutschland auf eine Erklärung des UN-Menschenrechtsrats hinwirken. Es ist
       auch in Deutschlands Interesse, die Lage in Ägypten zu verbessern. 2022 gab
       es einen sprunghaften Anstieg der Zahl ägyptischer Einwanderer nach Europa.
       
       Auch bei der [5][Schiffskatastrophe im Mittelmeer im Juni] waren viele
       Ägypter*innen dabei.
       
       Das hat mich nicht überrascht. Ich habe von Familien gehört, die ihren Sohn
       auf dem Mittelmeer verloren haben und gleich den nächsten losschickten.
       Mein Land wird immer unerträglicher. Wir brauchen Druck, damit sich der
       öffentliche Raum öffnet. Die Menschen ersticken in diesem Land, sie werden
       fliehen. Die Lösung darf nicht lauten, immer mehr Geld in die
       Grenzsicherung zu pumpen. Werft weiter mit Geld und Waffen auf uns, dann
       wird Ägypten explodieren. Wir sind 100 Millionen, wir sind nicht Syrien.
       Wenn die Syrer schon furchterregend sind, dann wartet mal auf die Ägypter.
       
       9 Jul 2023
       
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