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       # taz.de -- Berlin mit viel Beton „revitalisiert“: Alles vom feinsten Beton
       
       > Obwohl die Stadt mit dem Slogan „Grünes Berlin“ wirbt, wird hier immer
       > noch viel in Beton investiert. Das muss nicht sein, findet unser
       > Kolumnist.
       
   IMG Bild: Das könnte man auch Abstimmung mit den Füßen nennen: ein in Berlin allseits bekannter Trampelpfad
       
       Es kommt drauf an, was man draus macht! – Diesen alten Werbespruch der
       Zementindustrie scheint sich die Stadtplanung in Berlin zu eigen gemacht zu
       haben. Obwohl die Stadt auf Plakaten für ein „Grünes Berlin“ wirbt, gehört
       sie damit ganz sicher nicht zur „ökologischen Klasse“, wie der
       Wissenssoziologe Bruno Latour und der Soziologe Nikolaj Schultz die neuen
       Klimaaktivisten und Umweltschützer in ihrem „Memorandum ‚Zur Entstehung
       einer ökologischen Klasse‘“ nennen.
       
       In Schweden gibt es schon lange „Brukarplanering“: Planung mit und für die
       Nutzer. Seit Berlin Hauptstadt ist, geschieht hier das Gegenteil. Die
       Behörden engagieren renommierte Architekten aus dem Ausland.
       
       Vor 1989 wurde bei einem Verkehrsberuhigungsprojekt am Lausitzer Platz in
       Kreuzberg vom Planungsbüro eine Anwohnerbefragung durchgeführt.
       Selbstverständlich kam dabei heraus, dass fast alle Geschäftsinhaber am
       Platz gegen Verkehrsberuhigung waren, weil sie sich vom Autoverkehr mehr
       Kunden erhofften. Der Platz wurde trotzdem „beruhigt“.
       
       Nach der Wende konnte man am Invalidenpark in Mitte sehen, wie das
       plötzlich großdeutsch gewordene Gemüt seine Planungshoheit missbrauchte.
       Einst diente die Freifläche den Insassen des Invalidenhauses als
       Nutzgarten. Nun wurde für viel Geld der Zürcher Professor Girot und das
       Pariser Landschaftsarchitekturbüro atelier Phusis beauftragt, etwas ganz
       „Schickes“ dort zu planen. Heraus kam eine riesige Raketenabschussrampe aus
       Beton.
       
       ## Dem Größenwahn verfallen
       
       Ähnliches geschah mit dem [1][Besselpark] an der Friedrichstraße, benannt
       nach dem [2][Astronomen Bessel]. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III.
       ließ dort von Schinkel eine Sternwarte bauen. Schon 1841 war man hier dem
       Größenwahn verfallen, denn am Gebäude wurde der „preußische
       Normalhöhenpunkt“ markiert, von wo aus „Berlin Mean Time“ angenommen wurde.
       Bekanntlich konnte man sich aber nicht durchsetzen gegenüber dem
       „historischen Nullmeridian“ der Seemacht England an der Sternwarte in
       Greenwich. Das Observatorium wurde nach Babelsberg verlegt, das Gebäude
       abgerissen.
       
       Erst 1995 legte man dort einen Park an: Rasenflächen mit einem Heckenriegel
       für Spatzen und fast 100 Kastanienbäumen. Während der Coronajahre wurde er
       vom Landschaftsarchitekturbüro Rehwaldt „aufwändig revitalisiert“, also in
       ein „lebendiges und attraktives Parkareal umgestaltet“ – mit vielen
       „Sichtachsen“ aus Beton. Eine blühende Brachfläche nebenan wurde gleich
       ganz zubetoniert. Die Hecke entfernte man zugunsten eines halbmeterhohen
       Betonriegels (mit eingravierten Wörtern wie „Glück“, „Erfolg“ etc.), weil
       die Anwohner angeblich Angst gehabt hätten, im Dunkeln an der Hecke
       vorbeizugehen.
       
       Das alles ist Teil einer Gentrifizierung dieses türkisch-proletarischen
       Gebiets mittels Eigentumswohnungen, Fahrradläden und Medienunternehmen (wie
       die taz). Alles vom Feinsten. Im Zentrum befindet sich der „soziale
       Brennpunkt“ [3][Mehringplatz] vor dem U-Bahnhof Hallesches Tor. Zur
       „Quartiersaufwertung“ wurde 2006 das Ende der Friedrichstraße bis zum
       Mehringplatz als illuminierter „Pfad der Visionäre“ mit Vorbildfunktion
       verlängert. 2014 gewannen die Büros Arge Lavaland GmbH und TH Treibhaus das
       Wettbewerbsverfahren für die Neugestaltung des Mehringplatzes, wofür man
       dann neun Jahre brauchte – bis 2023. So lange war der Platz eingezäunt.
       
       Wieder wurde vor allem mit Beton „revitalisiert“, wobei sie den geraden
       Fußweg vom [4][„Pfad der Visionäre“] bis zum U-Bahnhof mit einer kleinen
       Betonmauer versperrten und den Weg 30 Meter weiter nach rechts verlegten.
       Schon kurz nach der Eröffnungsfeier wurde das von den Nutzern korrigiert:
       Sie stiegen über das Mäuerchen und gingen über den Rasen.
       
       Weil von oben derart dumpf-autoritär geplant wird, findet man solche
       eigenmächtigen „Nutzungsspuren“ überall: an der Humboldt-Bibliothek am
       Tegeler Hafen, im Volkspark Wilmersdorf, am Antonplatz in Weißensee usw. Es
       handelt sich dabei um abkürzende Trampelpfade über Rasenflächen, weil die
       angelegten Beton- oder Steinplatten zu umwegig sind. Mit „Brukarplanering“
       hätte es intelligentere Lösungen geben können, aber das hätte
       Sozialforschung statt Betonideen erfordert.
       
       11 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Besselpark
   DIR [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Wilhelm_Bessel
   DIR [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Mehringplatz
   DIR [4] /Mehringplatz-und-Pfad-der-Visionaere/!5852328
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
       ## TAGS
       
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