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       # taz.de -- Hauptschüler:innen im Bundestag: Ständig lückenhafte Vertretung
       
       > Mehr als 20 Millionen Menschen haben einen Hauptschulabschluss. Nur 20
       > von ihnen sitzen im Parlament.
       
   IMG Bild: Harte Tür: Die meisten der 736 Bundestagsabgeordneten haben einen Hochschulabschluss
       
       [1][Tina Winklmann] ist eine seltene Erscheinung im Deutschen Bundestag.
       Die Oberpfälzerin sitzt für die Grünen in Deutschlands höchstem Parlament
       in Berlin. Sie tritt zu ihren Reden über Sport- und Arbeitsmarktpolitik im
       Plenum meist in Turnschuhen ans Pult und spricht mit einem unverkennbar
       bayerischen Akzent. Und sie hat es dorthin als eine von wenigen
       Abgeordneten mit Hauptschulabschluss geschafft.
       
       „Politik steht jedem und jeder offen, egal mit welchem Abschluss“, sagt
       Winklmann. Häufig würde den Grünen unterstellt, eine „Akademiker-Partei“ zu
       sein, berichtet sie. Das weist die Politikerin jedoch zurück. Trotzdem
       haben die meisten der 736 Bundestagsabgeordneten studiert. Extrem
       unterrepräsentiert sind dagegen Abgeordnete mit Hauptschulabschluss, die –
       wie Winklmann – nach der Schule eine Ausbildung absolviert und sich danach
       beruflich weiterqualifiziert haben.
       
       Fast ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland hatte nach Angaben des
       Statistischen Bundesamtes im Jahr 2022 den Haupt- oder Volksschulabschluss.
       Das sind mehr als 20 Millionen Menschen, rund ein Drittel der
       Wahlberechtigten. Jedoch sitzen laut Datenhandbuch des Bundestags in dieser
       Legislaturperiode insgesamt nur 20 Volksvertreterinnen und -vertreter mit
       Hauptschulabschluss im Parlament. Tina Winklmann ist eine von fünf, mit
       denen die taz gesprochen hat.
       
       Die 43-Jährige hat nach der Hauptschule Verfahrensmechanikerin für
       Kunststoff- und Kautschuktechnik gelernt und sei in einem
       „Arbeiterhaushalt“ in der „immer noch sehr CSU-lastigen“ Oberpfalz
       aufgewachsen, wie sie es formuliert. Zwischen zwei Sitzungen im Bundestag
       hat sie das telefonische Interview mit der taz gelegt und für das Telefonat
       kurz den Plenarsaal verlassen. „Politik ist unser Leben, und mein Weg in
       die Politik war klar“, sagt Winklmann über ihre Familie und ihren
       politischen Werdegang. „Mit 15 habe ich die Ausbildung begonnen und bin
       gleich Gewerkschafterin geworden.“ Mitglied der Grünen wurde sie wenig
       später. Weil Sport- und Arbeitsmarktpolitik als vorrangig bundespolitische
       Themen zu ihren Schwerpunkten zählen, sei ihre „Heimat immer im Bundestag“
       gewesen, sagt sie.
       
       Für viele dürfte ein solcher Weg jedoch weniger selbstverständlich sein.
       Von einer „Repräsentationslücke“ spricht daher die Hamburger Soziologin
       Christiane Bender. „Da fehlen Stimmen im Bundestag, die von Menschen
       geäußert werden können, die vorwiegend von den Verwerfungen des sozialen
       Wandels betroffen sind“, sagt Bender. Durch „Werbung, Werbung, Werbung“
       will die Grünen-Parlamentarierin Winklmann mehr Menschen mit mittlerem
       Bildungsabschluss die Möglichkeit zu politischer Teilhabe sowie den Weg in
       die Parlamente aufzeigen. „Viele Menschen trauen sich schlichtweg nicht den
       Weg zu gehen“, so Winklmann. Sie besuche öfter Berufs- und Mittelschulen,
       wie die Hauptschulen in Bayern heißen, motiviere dort für politisches
       Engagement und ernte „positive Reaktionen“.
       
       Politisches Engagement aus allen Schichten scheint dringend notwendig zu
       sein. Denn für die Soziologin Bender hat die Repräsentationslücke auch
       Auswirkungen auf die Demokratie und den sozialen Frieden. „Wer über keinen
       oder einen niedrigen Bildungsabschluss verfügt, den treffen die Risiken in
       der Arbeitswelt hart“, sagt sie. Weitere soziale Probleme, wie die am
       Wohnungsmarkt, zeigten sich am stärksten dort, wo Menschen mit geringen
       Einkommen leben.
       
       Im Bundestag fehlen Abgeordnete, die sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrung
       diesen Problemen widmen und dadurch entstehe ein „Ungerechtigkeitsgefühl“.
       Eine Folge davon sei ein „Protestverhalten“, sich nicht an Wahlen zu
       beteiligen. Fehlende Repräsentation führe zu einem „Vertrauensentzug“ in
       die Politik, in die politisch Handelnden und in die Parteien,
       möglicherweise sogar in die demokratischen Institutionen.
       
       „Wenn es Menschen wie mich hier gar nicht mehr geben würde, würden gewisse
       Themen gar nicht mehr behandelt“, sagt [2][Alexander Ulrich]. Er ist
       Parlamentarier der Linkspartei. Nach seinem Hauptschulabschluss in
       Rheinland-Pfalz hat er Werkzeugmacher gelernt und mehrere Jahre in seinem
       Lehrberuf bei Opel in Kaiserslautern gearbeitet, ehe er für den Betriebsrat
       freigestellt wurde und später in die IG-Metall wechselte. In seinem Büro im
       Parlamentsgebäude des Jakob-Kaiser-Hauses, angrenzend an den Reichstagsbau,
       erzählt er von seiner Geschichte.
       
       „Ich habe einen anderen Zugang zu Bürgern mit kleineren und mittleren
       Einkommen“, betont Ulrich. Sorgen um die hohe Inflation und die damit
       verbundenen stark gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreise könnten
       Abgeordnete aus wohlhabenden Akademikerfamilien kaum nachvollziehen, findet
       er. Seit 18 Jahren sitzt der ehemalige Gewerkschaftssekretär und
       Geschäftsführer der IG-Metall im Bundestag.
       
       Er habe „nie Interesse gehabt, Abgeordneter zu werden“, berichtet der
       52-Jährige. Doch 2005, zur vorgezogenen Bundestagswahl, habe die neu
       gegründete Partei „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, die
       sich später mit der PDS zur Linkspartei zusammenschloss, Kandidatinnen und
       Kandidaten gesucht. Weil Ulrich als Gewerkschafter einen gewissen
       Bekanntheitsgrad hatte, sei er als Kandidat vorgeschlagen worden und
       schließlich in den Bundestag eingezogen.
       
       Woran es liegt, dass nicht mehr Menschen mit einer ähnlichen Biografie wie
       der von Ulrich und Winklmann in den Bundestag kommen, erklärt Soziologin
       Bender: „Für dieses Problem sind die Parteien verantwortlich, vor allem die
       Volksparteien, oder die, die es werden wollen.“ Sie bezeichnet Parteien als
       die „wichtigsten Interessensinstrumente der Bürgerinnen und Bürger, ihren
       Willen in unserer repräsentativen Demokratie durchzusetzen“. Daher müssten
       sich Parteien wieder in breiten Bevölkerungsgruppen engagieren, um
       möglichst viele Menschen zu erreichen.
       
       Bender plädiert dafür, dass Parteien ihre Arbeit vor Ort verstärken und mit
       Menschen in Kontakt treten, die an der gesellschaftlichen Basis leben und
       arbeiten. „Wenn sie in den Parteien nicht vorkommen, kommen sie auch nicht
       im Parlament vor“, bekräftigt die Soziologin. Sonst würden sich immer mehr
       Menschen von der parlamentarische Politik abwenden, weil sie ihre Anliegen
       nicht mehr repräsentiert sähen. Eine Folge davon sei, „dass sich
       extremistische Ränder verstärken“. Mehr Basisarbeit erwartet sich die
       Gesellschaftswissenschaftlerin beispielsweise durch die Eröffnung von
       Parteibüros, insbesondere in strukturschwachen Gegenden. Die SPD sei dafür
       einst Vorbild gewesen.
       
       Als Sozialdemokratin sitzt [3][Peggy Schierenbeck] im Bundestag. Die
       52-Jährige ist in einer Schaustellerinnen- und Schaustellerfamilie groß
       geworden und hat mit ihrem Mann eine Achterbahn und eine Riesenrutsche auf
       Volksfesten betrieben, ehe sie sich zur Business- und Personaltrainerin
       ausbilden ließ. Weil die Eltern mit ihr von Rummel zu Rummel gezogen sind,
       sah Schierenbeck 113 Schulen von innen, bevor sie ihren Hauptschulabschluss
       machte.
       
       Zu ihrem „politischen Zuhause“ sei die SPD während der rot-grünen
       Bundesregierung von 1998 bis 2005 unter Kanzler Gerhard Schröder geworden,
       berichtet Schierenbeck, die sich einen „sehr, sehr starken
       Leistungsmenschen“ nennt und gern mehr Unternehmerinnen und Unternehmer im
       Bundestag sehen würde. Sie trat zunächst in die Hamburger SPD ein und
       engagierte sich ab 2016 in der Kommunalpolitik ihres „Heimatorts“. Von dort
       rutschte sie schließlich in die Bundespolitik. Im Frühherbst 2021 zog sie
       für den niedersächsischen Wahlkreis Diepholz und Nienburg erstmals in den
       Bundestag ein. Unterstützt wurde sie bei ihrem politischen Aufstieg durch
       eine Mentorin.
       
       Was Schierenbeck grundsätzlich vermisst, ist eine gleichwertige Anerkennung
       aller Schulabschlüsse. „Eine Stigmatisierung als Hauptschülerin habe ich
       selbst nie erlebt, und doch spürt man derzeit solche Tendenzen“, sagt sie
       und ergänzt: „Heutzutage steht oft das Abitur im Mittelpunkt der
       Aufmerksamkeit.“ Deshalb plant sie „ab diesem Jahr“ Abschlussfeiern von
       Haupt- sowie Realschülerinnen und -schülern in ihrem Wahlkreis zu besuchen
       und dort aus ihrer Biografie zu berichten.
       
       Dass es trotz Motivation Hürden geben kann, sich politisch zu engagieren,
       unterstreicht Christiane Bender. „Milieueigenarten des Bildungsbürgertums,
       was den Kommunikationsstil angeht, prägen zurzeit die Politik“, sagt sie.
       Es gibt also zahlreiche Politikerinnen und Politiker, die davon
       profitieren, dass sie aus einem gehobenen Milieu kommen und sich dadurch
       gewählter ausdrücken können. Bevölkerungsgruppen aus anderen Schichten
       können sich dadurch ausgegrenzt fühlen. Studierte Abgeordnete hätten laut
       Bender häufig bereits ein langes Trainingsprogramm durch viele
       Seminardiskussionen hinter sich, um Debatten erfolgreich zu bestreiten. Aus
       Benders Sicht sollte in Parlamenten „Sprache aber eher dereguliert“ werden,
       um Barrieren der Verständigung abzubauen. Sie fordert „mehr Dialog auf
       Augenhöhe“.
       
       [4][Muhanad Al-Halak], seit dieser Legislaturperiode Bundestagsabgeordneter
       der FDP, hat anfangs Hürden im Bundestag erlebt. Um die Mittagszeit ist er
       zum Interview vom Reichstagsgebäude die wenigen Schritte in sein Büro im
       Berliner Regierungsviertel herübergeeilt, zwischen Parlamentsdebatte und
       Parteiverpflichtungen. Zur Stärkung hat er sich eine Energydrink-Dose
       geöffnet und sich in einen Sessel neben seinem Schreibtisch fallen lassen.
       
       Während Al-Halak erzählt, lacht er viel, wird aber auch immer wieder ernst.
       Er bezeichnet das Parlament als „Haifischbecken“. Der 33-Jährige sagt: „Man
       muss gut überlegen, was man sagt.“ Das sei „extrem“. Im Innen- sowie
       Umweltausschuss, in denen Al-Halak als Experte für Wasserversorgung sitzt,
       gebe es fast nur Juristinnen und Juristen. Da habe er gemerkt, dass er eine
       andere Sichtweise habe. Und er fügt hinzu: „Die erste Zeit war sehr
       schlimm, und ich war sehr zurückhaltend.“ Insbesondere, weil die FDP
       Regierungspartei sei, müsse er seine Wörter genau wählen.
       
       Al-Halak ist als Elfjähriger mit seiner Familie vor dem Krieg im Irak
       geflohen und hat im niederbayerischen Grafenau eine „Heimat“ gefunden, wie
       er sagt. Durch Ehrenämter im Fußballverein und bei der Feuerwehr fand er
       seinen Weg in die Politik, fuhr bei seiner ersten Kommunalwahl in Grafenau
       prompt ein starkes Ergebnis ein und machte so bei der Bundesfraktion der
       FDP auf sich aufmerksam.
       
       Er spricht sich, wie Winklmann bei den Grünen, gegen das Image der FDP als
       „Partei für Akademiker, nur für Reiche“ aus. Auch er geht in Schulen und
       erzählt seine Geschichte. „Ich bin stolz, dass ich eine berufliche
       Ausbildung habe“, sagt der Abwassermeister, der nach der bayerischen
       Mittelschule zunächst Fachkraft für Abwassertechnik gelernt hat. Er sagt,
       er rede „verständlicher, bodenständiger“ als manch andere Abgeordnete.
       
       Das reklamiert auch [5][Alois Rainer] von der CSU für sich. Der Politiker
       sitzt in seinem Büro im Paul-Löbe-Haus, das mit dem Kanzleramt zum
       Gebäudeensemble „Band des Bundes“ entlang der Spree gehört. An der Wand
       hängt ein schwarz-rot gestreiftes Fußballtrikot mit der Nummer neun, aus
       seiner aktiven Fußballerzeit als Stürmer beim FC Bundestag. „Ich komme
       vielleicht ein bisschen schneller auf den Punkt“, sagt der 58-Jährige, der
       sich als „familiär vorgeprägt“ betrachtet, was seine politische Biografie
       angeht.
       
       Rainers Vater war wie er Bürgermeister und Bundestagsabgeordneter. Seine
       Schwester ist die ehemalige Bundesbau- und Bundesgesundheitsministerin
       Gerda Hasselfeldt. Ihm sei die politische Rhetorik „ein Stück weit in die
       Wiege gelegt worden“, sagt der Metzgermeister aus Straubing, der nach
       seinem Hauptschulabschluss Fleischer gelernt hatte. Wenn er in seinem
       Wahlkreis Rückmeldungen aus der Bevölkerung erhalte, animiere der
       58-Jährige regelmäßig zum Einstieg in die Politik. Wie Al-Halak hebt er das
       Ehrenamt für seinen politischen Werdegang hervor: „Vor dem Hauptamt kommt
       das Ehrenamt.“
       
       Um grundsätzlich eine „differenziertere Sozialstruktur“ im Parlament
       abzubilden, schlägt Christiane Bender neben einer breiteren Auswahl durch
       die Parteien ein weiteres Instrument vor: das uralte demokratische
       Losverfahren, das seinen Ursprung im antiken Griechenland hat. Am Wahlabend
       einer Bundestagswahl könnten so 5 Prozent der Sitze des neuen Parlaments
       durch geloste Abgeordnete besetzt werden. Zwar dürfte diese Gruppe nach
       Benders Konzept verfassungsgemäß nicht an Abstimmungen teilnehmen. „Sie
       besitzen aber sonst die Rechte und Privilegien von gewählten Abgeordneten“,
       so Bender. Die Stimmen dieser Delegierten würden im Bundestag eine enorme
       Aufmerksamkeit in der Bevölkerung erhalten, ist sich die Soziologin sicher.
       
       Eine Quotenregelung hält sie dagegen weder für angemessen noch mit dem
       Grundgesetz vereinbar: „Quoten machen Wahlen tendenziell überflüssig.“ Der
       Bundestag sei „kein Ständeparlament“. Lobbygruppen könnten laut der
       Sozialwissenschaftlerin fordern, Abgeordnete zu nominieren, die ihre
       Interessen vertreten. „Jede hervorgehobene gesellschaftliche Gruppe könnte
       dann mit gleichem Recht verlangen, Abgeordnete „zu delegieren.“ Das
       Parlament würde dadurch an Legitimität einbüßen, Beschlüsse für die ganze
       Bevölkerung zu fassen.
       
       15 Jul 2023
       
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