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       # taz.de -- Friedensmusiktheater in Münster: Blutiges Gemetzel bei Käsespießchen
       
       > Die Tanztheater-Compagnie Bodytalk führt in Münster ein „Westfälisches
       > Friedensballett“ auf. Der Titel klingt harmlos – der Abend ist umso
       > wilder.
       
   IMG Bild: Schön bunt soll’s dereinst im Digitalmuseum zugehen
       
       [1][Frieden?] Wer das Wort hört, denkt an weißes Taubengeflatter, filigrane
       Origami-Kraniche, Regenbogen-Fahnen und ein verträumt-trotziges „We Shall
       Overcome“ zu Gitarre und Lagerfeuer. Das „Westfälische Friedensballett“ in
       Münster ist anders – schockhaft anders: Energie explodiert. Ein
       bildgewaltiger Abend bricht sich Bahn, fordert gedanklich heraus,
       emotional. Und jeder, der diese Produktion der [2][Tanztheater-Compagnie
       „Bodytalk“] nicht erlebt hat, ist zu bedauern.
       
       Baugerüste rollen da wie Kampfpanzer in die Schlacht. Verzweifelte ringen
       miteinander wie Raubtiere, werden durch Gewehrsalven niedergestreckt.
       Blitze zucken, Qualm wallt über den Horizont, blutüberströmte Leiber waten
       durch apokalyptische Seen aus Leichen und Flammen. Sensen verhaken sich
       krachend ineinander. Wuchtiges Wummern dröhnt aus den Boxen, bringt das
       Gestühl zum Beben. Dazu kühlfahles, blendendes Licht, Sirenengeheul und
       ekstatischer, brutaler Sex. Eisen kracht auf Eisen, bedrohlicher Rap bohrt
       sich ins Ohr. Und dann plötzlich massive Kontraste: innige Umarmungen,
       hoffnungsvolle Fröhlichkeit, psychedelische Farbflecken, jähe
       Partyhelligkeit nach der Düsternis der Hölle, in die der Mensch den
       Menschen stürzt.
       
       Bizarr ist das alles, skurril, mehrbödig und mit Symbolischem durchsetzt.
       Ein starker, wilder Abend. „Normalerweise sind wir noch sehr viel wilder“,
       sagt Rolf Baumgart danach. Zusammen mit Yoshiko Waki hat er Bodytalk im
       Jahr 2008 gegründet, beide verantworten auch diese Inszenierung und
       Choreografie. Was an ihrem „Friedensballett“ nicht normal ist, ist der
       Anlass: der Westfälische Frieden von 1648, vor nunmehr 375 Jahren also. In
       Münster treibt dieses Jubiläum ähnlich seltsame Blüten wie in Osnabrück:
       vom Friedenssport bis zu den Friedensschnittchen der Friedenstafel.
       
       All dieses Wohlfeile lässt Bodytalk schnell vergessen. Zusätzliches Gewicht
       erhält der Abend durch seinen Schauplatz: Das „Krameramtshaus“, das heutige
       [3][„Haus der Niederlande“], war während der Friedensverhandlungen das
       Quartier der niederländischen Gesandten – hier endete, parallel zum
       [4][Dreißigjährigen Krieg], 1648 auch der achtzigjährige zwischen den
       Niederlanden und Spanien.
       
       ## Vieles ist, bei aller Schwere, augenzwinkernd
       
       Der bewusst steife Titel „Westfälisches Friedensballett“ erkläre sich aus
       einer „Dekonstruktion“, sagt Baumgart: 1645 sei hier das [5][„Ballet de la
       Paix“] aufgeführt worden, importiert aus Paris. Darum beginnt das Geschehen
       nun auch mit Balletttraining, bei dem die Ballettstangen bald zu Waffen
       werden. Rund 40 Plätze fasst der kleine Saal im „Haus der Niederlande“, und
       wenn das Gemetzel erst beginnt, findet es inmitten des Publikums statt, auf
       blutrotem Boden.
       
       Besonders herausfordernd für die Zuschauenden: wie intensiv sie
       partizipieren. Nicht nur, dass sie, während zu ihren Füßen Eingekerkerte
       vor Hunger den Verstand verlieren, schlemmen dürfen wie die Gesandten von
       einst – Tabletts mit Käsespießchen kreisen, Weintrauben und Bananenscheiben
       werden gereicht. Als Repräsentant:innen aktueller Kriege stehen sie
       danach selbst auf der Bühne. Die Darstellenden erzählen ihnen sehr
       persönliche Geschichten, bitten sie, zu Zeugen ihrer Lebensentscheidungen
       zu werden, auf ihre Körper zu malen, zu schreiben.
       
       Vieles ist, bei aller Schwere, augenzwinkernd: Historische Namen werden
       verfremdet, es geht [6][in Anspielung auf eine Produktion der Augsburger
       Puppenkiste] um „Bill Bo und seine Bande“, die durch die Lande ziehen. Und
       die Hoffnung auf „Ein bisschen Frieden“ lässt das Ein-Mann-Liveorchester
       herrlich verstörend klingen. „Wir bringen euch den Frieden“, heißt es
       verstörend noch im Programmheft, „Hier ist schon mal sein Kopf / Und es
       tropft, tropft, tropft …“
       
       Schauspielerisch, gesanglich und tanztechnisch ist das hochklassig. Und der
       Blick ist immer kritisch, immer krass. Nach einer Fressorgie, einem Kampf,
       in dem Früchte zu Waffen werden, zu Folter- und [7][Sexwerkzeugen], Finger
       sich in Gurken bohren, Möhren in Münder, wird der mit Essensresten übersäte
       Boden freigefegt. Friedlich ist danach nichts. Und das ist gut so.
       
       7 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Frieden-und-Krieg/!t5012061
   DIR [2] https://bodytalkonline.eu/
   DIR [3] https://www.uni-muenster.de/HausDerNiederlande/ueber/index.shtml
   DIR [4] /400-Jahre-Prager-Fenstersturz/!5504216
   DIR [5] https://www.euppublishing.com/doi/abs/10.3366/1290814?journalCode=drs
   DIR [6] https://www.youtube.com/watch?v=s0EUfiL0SUE
   DIR [7] /Peaches-Ausstellung-in-Hamburg/!5614643
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harff-Peter Schönherr
       
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