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       # taz.de -- Von der Selbstverantwortung des Fußvolks: Der Gehweg als Bürger*innensteig
       
       > Zu Fuß gehen war früher, also ganz früher, kein Vergnügen, sondern
       > demütigend. Das soll heute anders sein!? Vom täglichen Kampf der
       > Fußgänger*innen.
       
   IMG Bild: Mit den Füßen abgestimmt – mit anderen Worten: Fußgänger*innen sind auch Wähler*innen
       
       Von dieser Geschichte des Gehwegs, die ich auf Wikipedia gefunden habe,
       wünsche ich mir sehr, dass sie stimmt: Der Gehweg sei eine
       [1][Errungenschaft der französischen Revolutionär*innen], die als
       Bürger*innen ebenfalls bequem und sauberen Fußes den öffentlichen
       Straßenraum nutzen wollten. Das war zuvor dem Adel vorbehalten, der seine
       Kutschen vor die Treppe lenken lassen konnte, die erhaben über den Schmutz
       der Straße direkt in die Beletagen der Häuser führte. Fußgänger*innen
       dagegen mussten sich die Straße mit Kutschen und Pferden teilen und durch
       den Dreck waten, den diese dort zuverlässig herstellten.
       
       Zu Fuß gehen war kein Vergnügen, sondern eine Demütigung. Auf dem Gehweg
       konnten dann auch Bürger*innen selbstbewusst (und sauber) im
       öffentlichen Raum auftreten – weshalb er auch „Bürgersteig“ heißt.
       
       In der [2][Straßenverkehrsordnung (StVO)] taucht dieser Begriff allerdings
       nicht auf. Dort heißt der Bürgersteig Gehweg und darf [3][„in der Regel“]
       nur von Fußgänger*innen genutzt werden. Ausnahmen sind etwa Rollstühle
       und radfahrende Kinder unter 9 Jahren, allein oder mit ihren Eltern, die
       dann ebenfalls Rad fahren dürfen. (Das nur so zur Info für die, die das
       nicht wussten.)
       
       Wussten Sie aber, dass fast alle Verstöße gegen die StVO, die auf Gehwegen
       begangen und mit Bußgeld belegt werden können, sich auf Verkehr MIT Reifen
       beziehen? Auf das Parken von Autos oder Mopeds auf Gehwegen etwa oder das
       Radfahren ohne legitimierendes Kind. Was nichts mit Reifen zu tun hat,
       bezieht sich auf zu weit in den Gehweg ragende Cafétische oder
       Werbeschilder. Fußgänger*innen aber drohen erst dann Strafen, wenn sie
       den Gehweg verlassen: bei Rot eine Ampel überqueren etwa. Niemand schreibt
       ihnen vor, wie schnell oder langsam, zu wievielt nebeneinander, auf welcher
       Seite des Gehwegs man gehen oder andere überholen darf. Wilder Westen auf
       dem Gehweg also, das Recht der Stärkeren?
       
       ## Man einigt sich situationsangemessen
       
       Natürlich gibt es die Remplerinnen, die Hetzer, die Schleichenden und
       Stehenbleiber, die Viererketten mit und ohne Kinderwagen. Aber zu
       gewaltsamen Auseinandersetzungen [4][wie unter Auto- und
       Radfahrer*innen] kommt es unter Fußgänger*innen doch eher selten.
       Man einigt sich situationsangemessen, spontan und schnell, macht brummelnd
       Platz oder lächelnd: friedlich, zivilisiert vom Lateinischen civis,
       Deutsch: Bürger*in. Als zu Fuß gehende Bürger*innen haben alle die
       gleichen Rechte auf dem – genau – Bürgersteig.
       
       Passender finde ich deshalb den Begriff von Anarchie als gesellschaftlicher
       Zustand, in dem minimale Gewaltausübung durch Institutionen und maximale
       Selbstverantwortung des Einzelnen vorherrscht. Und er klingt ja auch fast
       ein bisschen an in der 1. Grundregel der StVO, die besagt, dass die
       Teilnahme am Straßenverkehr „ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht“
       erfordere.
       
       Ich finde: Wir Fußgänger*innen machen das ziemlich gut mit der
       Selbstverantwortung und der Rücksicht. Wir könnten sogar als Vorbilder für
       die anderen Verkehrsarten dienen – würde ich denken, wäre es nicht so, dass
       ja auch Auto- und Radfahrer*innen immer mal wieder zu Fuß gehen
       (während längst nicht alle Fußgänger*innen auch Fahrrad oder Auto
       fahren).
       
       Wieso klappt das mit Verantwortung und Rücksicht offenbar so viel
       schlechter, wenn jemand Räder unterm Hintern hat? Wo das Rad doch
       eigentlich so einen großen Fortschritt für die Zivilisation gebracht hat?
       Am Rad kann’s nicht liegen, oder jedenfalls nur teilweise: dort, wo es für
       seine Nutzer*innen nur noch Geschwindigkeit bedeutet. Andere werden dann
       zu bloßen Hindernissen, zu Objekten.
       
       Auf dem Bürgersteig dagegen sieht man die anderen. Sie sind menschlich,
       vielfältig, unberechenbar, sind „wie ich“: haben es eilig oder schlendern,
       gehen an Krücken oder zu viert nebeneinander her, oder reißen sich von
       Papas Hand los, um quer über den Gehweg zu rennen. Und lächeln einem dabei
       im besten Fall ins Gesicht.
       
       5 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Fu%C3%9Fverkehr
   DIR [2] https://www.gesetze-im-internet.de/stvo_2013/StVO.pdf
   DIR [3] https://www.sos-verkehrsrecht.de/c/gehweg/
   DIR [4] https://www.tagesspiegel.de/berlin/der-tagliche-verkehrskrieg-in-berlin-8143570.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alke Wierth
       
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