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       # taz.de -- +1,5-Grad-Grenze bei der Erderhitzung: Wir haben an der Uhr gedreht
       
       > In den kommenden Jahren wird die +1,5-Grad-Grenze sehr wahrscheinlich
       > überschritten. Gerade dann wird die Grenze noch gebraucht.
       
   IMG Bild: Schon jetzt leiden viele Menschen an den Folgen des Klimawandels: Brände auf Rhodos
       
       Wir haben die Zeit umgestellt. Auf [1][taz.de zählt eine Uhr] seit zwei
       Jahren die Zeit herunter, bis das weltweite CO2-Budget aufgebraucht ist, um
       das +1,5-Grad-Ziel bei der Erderhitzung einzuhalten. Nun hat [2][eine
       neue Studie] dieses Budget deutlich reduziert. Lief die Uhr vorher erst im
       Jahr 2029 aus, ist nun schon 2026 Schluss – falls die weltweiten Emissionen
       nicht deutlich sinken. Wir haben in den letzten drei Jahren drei Jahre für
       den Klimaschutz verloren.
       
       Es gibt viele Anzeichen dafür, dass das +1,5-Grad-Ziel nicht mehr zu halten
       ist. Viele [3][Forscher*innen], [4][Journalist*innen] und
       [5][Politiker*innen] haben es deshalb aufgegeben und fordern von
       anderen, das auch zu tun. Doch gerade jetzt, wo es scheitern könnte, ist
       das Ziel wichtiger denn je. Es konkretisiert den Anspruch, den wir Menschen
       an uns selbst haben. Es buchstabiert die Folgen aus, wenn wir nicht schnell
       und konsequent genug handeln. Und – wenn es einmal gescheitert ist – es
       wird die Utopie sein, zu der wir versuchen sollten, zurückzukehren.
       
       Im [6][Pariser Abkommen] verpflichten sich fast alle Regierungen der Welt
       darauf, die Erderhitzung auf deutlich weniger als 2 Grad Celsius über dem
       vorindustriellen Durchschnitt zu begrenzen – und möglichst auf 1,5 Grad.
       Dieses anspruchsvollere Ziel war vor allem von Ländern im Globalen Süden,
       insbesondere von Inselstaaten, durchgesetzt worden, die Folgen wie
       Hitzeextreme und Meeresspiegelanstieg deutlich früher zu spüren bekommen.
       
       Vom [7][Weltklimarat heißt es]: Um das +1,5-Grad-Ziel einzuhalten, müssen
       die Emissionen noch vor 2025 ihren Höchststand erreichen. Ein Blick in die
       Klimaszenarien des Gremiums zeigt aber: Die weltweiten Emissionen sind seit
       2021 so hoch, dass sie nur noch zu Szenarien passen, in denen die
       +1,5-Grad-Grenze überschritten wird.
       
       Auch die gemessenen Temperaturen bestätigen den Trend. Schon jetzt ist der
       langjährige Durchschnitt bei der Erderhitzung knapp unter +1,2 Grad. Die
       [8][Weltwetterorganisation prognostiziert], dass es vor 2027 das erste
       Einzeljahr geben könnte, das 1,5 Grad heißer ist als die Welt vor dem
       Industriezeitalter. Der langjährige Durchschnitt wird wohl wenige Jahre
       später auch darüber steigen.
       
       ## Deadline gegen Klima-Prokastination
       
       Menschen, die die Bedeutung des +1,5-Grad-Ziels abschwächen wollen, weisen
       oft darauf hin, dass +1,5 Grad klimatologisch nicht bedeutender sind als
       beispielsweise +1,4 Grad oder +1,6 Grad. Mit jedem Anstieg verschlimmern
       sich die Konsequenzen des Klimawandels. Deshalb sei dieses konkrete Ziel
       nicht so wichtig wie der baldige Stopp der Emissionen. Sei das
       +1,5-Grad-Ziel einmal überschritten, ändere sich nichts, auch dann müsse
       mindestens genauso stark um +1,6 oder +1,7 Grad gekämpft werden.
       
       Nur um es noch einmal deutlich zu machen: Dass die +1,5-Grad-Grenze
       gerissen wird, ist [9][keine physikalische Notwendigkeit].
       Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass sich die Erderhitzung
       stabilisiert, sobald Emissionen beendet werden und die Welt sich dann
       langfristig abkühlt. Würden heute alle Emissionen aufhören, würde die
       Erderhitzung bei +1,2 Grad stoppen. Das Problem ist ein menschengemachtes,
       und dass es nicht bald gelöst ist, hängt mit der Lethargie und
       Prokrastination der vergangenen Jahrzehnte zusammen.
       
       Gegen das Prokrastinieren hilft oft, sich konkrete Deadlines zu geben –
       egal wie beliebig sie ausfallen. Das +1,5-Grad-Ziel ist eine solche
       Deadline.
       
       Was gibt es zu gewinnen, wenn das +1,5-Grad-Ziel eingehalten wird? Ein
       [10][Bericht des Weltklimarates] und zahlreiche Studien haben das
       ausformuliert: Unter +1,5 Grad Erderhitzung ist die Wahrscheinlichkeit,
       dass geologische Kipppunkte wie das Abschmelzen des Grönland-Eisschildes
       ausgelöst werden, deutlich geringer. Zahlreiche Tier- und Pflanzenspezies
       können in viel größeren Gebieten überleben. Hunderten Millionen Menschen
       wird erspart, dass sie unter unmenschlichen Temperaturen von mehr als 29
       Grad im Jahresdurchschnitt leben müssen.
       
       ## Der kälteste Sommer des Rest ihres Lebens
       
       Bereits in diesem Jahr gab es den heißesten Mai und den heißesten Juni seit
       Beginn der Aufzeichnungen, im Juli wurde erstmals eine weltweite
       Durchschnittstemperatur von mehr als 17 Grad gemessen und das an mehreren
       Tagen in Folge. Weltweit gibt es beispiellose Hitzewellen und Waldbrände.
       Das Jahr 2023 könnte das bislang heißeste Jahr 2016 ablösen. Und trotzdem
       wird dieses Jahr insgesamt wohl [11][knapp unter +1,5 Grad] liegen.
       
       Wird das +1,5-Grad-Ziel nicht eingehalten, wird dieser Sommer voller
       Hitzerekorde für viele Kinder einer der kältesten ihres Lebens werden. In
       einer +1,5-Grad-Welt wird [12][jedes zweite Jahr heißer] sein, in einer
       +2-Grad-Welt wird mit wenigen Ausnahmen jedes einzelne Jahr heißer sein.
       
       Jetzt, wo die Grenzüberschreitung in die Nähe rückt, ist es wichtig,
       zunächst drei Ereignisse voneinander zu unterscheiden: Viele glauben, dass
       die Grenze bereits überschritten ist, wenn in einem einzigen Jahr die +1,5
       Grad gemessen werden. Überschritten ist die +1,5-Grad-Grenze aber erst,
       wenn das so oft passiert, dass auch der Durchschnitt von zwanzig Jahren
       darüber liegt. Endgültig an dem Ziel scheitern wird die Menschheit erst,
       wenn die Erderhitzung auch 2100 über +1,5 Grad liegt.
       
       ## Keine politischen Zusagen aufgeben
       
       Die Berichte des Weltklimarates sind das Ergebnis langer Verhandlungen
       zwischen fast 200 Regierungen der Welt. Schon jetzt wird an vielen Stellen
       deutlich, wie Regierungen ihre Zusagen nachträglich abschwächen – die
       reichen Länder zahlen beispielsweise schon seit Jahren nur einen Bruchteil
       der versprochenen Gelder für Klimaschutz und Klimaanpassung im Globalen
       Süden.
       
       Unter diesen Umständen wäre es fatal, eine so deutliche politische Zusage
       wie das +1,5-Grad-Ziel aufzugeben: Sie ist der konkrete Anspruch dieser
       Regierungen, an dem sie auch gemessen werden können.
       
       Der aktuellste Weltklimabericht geht davon aus, dass das +1,5-Grad-Ziel nur
       noch erreicht werden kann, wenn die Erderhitzung für einige Jahrzehnte über
       +1,5 Grad steigt und dann wieder sinkt. Die Regierungen der Welt gehen also
       implizit davon aus, dass noch nicht praxisfähige und extrem teure
       Technologien, wie CO2 aus der Luft zu entnehmen, verwendet werden. Jede
       heute vermiedene Tonne CO2 wäre billiger, und wenn es einmal so weit ist,
       werden die Regierungen sicher versuchen, sich vor den viel höheren Kosten
       des nachträglichen Klimaschutzes zu drücken. Dann müssen sie an ihre
       Verpflichtung auf das +1,5-Grad-Ziel erinnert werden. Dorthin muss der Weg
       zurückführen.
       
       ## Wir haben noch Zeit
       
       Noch sind die +1,5 Grad aber nicht überschritten. Das Ziel aufzugeben,
       würde bedeuten, all jene zu verraten, für die der Slogan „One point five to
       survive“ Realität ist, also jene, für die die +1,5-Grad-Grenze Überleben
       bedeutet. Und auch für jene, für die eine deutlich niedrigere Grenze
       überlebenswichtig gewesen wäre, denn schon jetzt leiden zahlreiche Länder
       unter Wassermangel, Landverlust, Nahrungsmittelunsicherheit, Extremwetter
       und Hitzewellen mit unmenschlichen Temperaturen.
       
       Solange die Grenze noch nicht überschritten ist, lohnt es sich, für ihre
       Einhaltung zu kämpfen – und für jedes Zehntelgrad darunter. Es gibt auch
       gute Gründe, möglichst schnell zu handeln: Noch emittieren wir viel pro
       Jahr, in Zukunft werden wir weit weniger emittieren. Jede Tonne CO2, die
       jetzt eingespart wird, schont Jahr für Jahr das Gesamtbudget und gibt der
       Menschheit in Zukunft Wochen, Monate oder gar Jahre für weiteres Handeln.
       
       Sinken die Emissionen signifikant, wird unsere CO2-Uhr wieder mehr Zeit
       bekommen. Ihr Ticken kann bedeuten: Unsere Zeit läuft aus. Sie bedeutet
       aber auch: Wir haben noch Zeit. Was ist in drei Jahren möglich?
       
       4 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ueber-die-CO2-Uhr-auf-tazde/!vn5810221
   DIR [2] https://essd.copernicus.org/articles/15/2295/2023/
   DIR [3] /Klimaphysiker-ueber-Erderhitzung/!5727110
   DIR [4] https://www.vox.com/energy-and-environment/2020/1/3/21045263/climate-change-1-5-degrees-celsius-target-ipcc
   DIR [5] https://www.nytimes.com/2022/11/16/climate/cop27-global-warming-1-5-celsius.html
   DIR [6] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A22016A1019(01)
   DIR [7] /UN-Bericht-zur-Erderhitzung/!5854491
   DIR [8] /Prognose-immer-sicherer/!5935369
   DIR [9] https://www.carbonbrief.org/explainer-will-global-warming-stop-as-soon-as-net-zero-emissions-are-reached/
   DIR [10] https://www.ipcc.ch/sr15/
   DIR [11] https://twitter.com/hausfath/status/1683034765388300288/photo/1
   DIR [12] https://agupubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/2017GL075612
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lalon Sander
       
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