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       # taz.de -- Segeln ohne Cis-Männer: Eine Seefahrt, die ist weiblich …
       
       > … und lesbisch, trans, inter, nonbinär, agender. Unterwegs mit einer
       > FLINTA*-Crew auf einem Segeltörn vor der Küste Schwedens.
       
   IMG Bild: Törn-Tag 3. Die Crew entspannt sich auf einem Anlegeplatz in der Nähe von Möllosund
       
       Es ist früher Abend, als die „Anthana“ die winzige Schäreninsel Åstol
       erreicht. „Versuch mal, die Slimelines mit dem Bootshaken zu fangen und
       dann ziehen wir uns langsam ran“, ruft Kapitän* Toni der Crew vorne am Bug
       entgegen. Toni trägt die Verantwortung, das 14 Meter lange Segelschiff
       sicher in den Hafen zu manövrieren, und muss alles im Blick behalten: links
       ein anderes Boot, vorne die Pfähle, an denen die Leinen befestigt werden
       sollen, und im Wasser die Slimelines, am Meeresgrund angebrachte Leinen, an
       denen man ein Boot festmachen kann. Der Wind pfeift, drückt die „Anthana“
       Richtung Ufer.
       
       Das Anlegen und Ablegen ist die wohl stressigste Angelegenheit beim Segeln.
       Jeder Handgriff muss stimmen, sonst kann das Schiff unkontrolliert ans Ufer
       oder an andere Boote knallen. Deshalb braucht es klare Kommandos. Ein
       Crewmitglied geht an Land, um die Leinen entgegenzunehmen. Doch da kommt
       schon der Hafenmeister angerannt, ein großer, schlaksiger Typ Anfang
       fünfzig. Er reißt die Leine an sich, legt sie um den Pfahl. Danach versucht
       er der Crew in gebrochenem Deutsch mitzuteilen, wie sie das Boot anzulegen
       haben. Kapitän* Toni versucht ihn zu ignorieren, gibt weiter Ansagen, doch
       das ganze Manöver dauert sehr viel länger als nötig.
       
       „Das war wirklich eine blöde Situation gerade“, sagt Toni danach an Deck.
       „Hätte er mich weiblich gelesen, dann wäre das alles noch viel schlimmer
       gewesen.“ Das Boot ist mittlerweile fest, die Crew ist noch etwas
       angespannt von der Situation. Toni, eine kleine Person mit sonnengebräuntem
       Gesicht und zwei dünnen geflochtenen Zöpfen, die aus einer knallgrünen
       Mütze hängen, ist gerade mit einer siebenköpfigen Crew auf einem Segeltörn
       in den westschwedischen Schären in der Nähe von Göteborg. Es sind
       ausschließlich Flinta* mit an Bord der „Anthana“, also Frauen, Lesben,
       intersexuelle, nichtbinäre, trans oder agender Personen. Organisiert wurde
       der Törn vom queerfeministischen Segelverein La Crèw, den Toni mitgegründet
       hat. Toni ist nichtbinär und [1][benutzt die Pronomen they/them].
       
       ## Die Segelwelt ist von Männern dominiert
       
       Manche der Segler*innen haben mehr Erfahrung, manche weniger. Die einen
       wollen einmal durchatmen, dem Alltag entkommen, ein kleines Abenteuer
       erleben. Andere trainieren [2][für eine Weltumsegelung]. In einem Hafen, in
       dem vor allem schwedische Pärchen in Leinenoutfits gemütlich das
       Midsommar-Wochenende einläuten, fällt die Gruppe auf. Dass der Hafenmeister
       gerade dieser Crew die Leinen aus der Hand gerissen hat, ist kein Zufall.
       Denn [3][die Segelwelt ist eine], die vor allem von Männern dominiert wird.
       Weiblich gelesenen Personen wird oft nicht zugetraut, dass sie segeln
       können.
       
       Dabei ist Segeln natürlich weder männlich noch weiblich – es kann bedeuten,
       mit Freund*innen gemeinsam dem Wind zu folgen, beim Kartenlesen den
       eigenen Orientierungssinn zu schärfen, in einer einsamen Bucht Anker zu
       werfen und mit dem Schlauchboot auf einer Insel anzukommen, um dort die
       Natur zu entdecken. Trotzdem ist es von patriarchalen Strukturen geprägt.
       Das fängt schon bei der Sprache an: „Mann über Bord“ ist die Ansage, wenn
       ein Crewmitglied unfreiwillig im Wasser landet. Auf der „Anthana“ heißt es
       stattdessen „Mensch über Bord“.
       
       „Das ist so ein richtiger Cis-Männer-Snack“, sagt Toni, gerade mit einem
       weißen Toastbrot mit Senf und einer Wiener Wurst aus der Dose auf dem Deck
       angekommen. Es ist mittlerweile Tag drei des Segeltörns und es regnet in
       Strömen. Auf offener See die Regentropfen ins Gesicht gepeitscht zu
       bekommen, während die Regenhose leckt und einem Wasser in die ohnehin nicht
       ganz wasserdichten Boots läuft, ist alles andere als angenehm. Die sonst
       wunderschöne Landschaft verschwindet hinter dem trüben Dunst der
       Regenwolken. War das Wasser am Abend zuvor noch eine sanfte,
       rosa-schimmernde, glatte Oberfläche, zischt, braust und überschlägt es sich
       bei Wind und Regen selbst.
       
       Segeln kann anstrengen, zwingt einen aber auch dazu, im Moment zu sein, die
       nassen Füße haben Priorität vor anderen Alltagssorgen. Diese Erfahrung
       Menschen zu ermöglichen, die [4][vom Gender-Pay-Gap] betroffen sind, ist
       ein Antrieb von Toni und dem dreiköpfigen Kollektiv La Crèw. Auch war Toni
       oft genervt von unreflektierter Männlichkeit an Bord. Seit 2008 ist they
       selbstständig als Skipper* auf dem Wasser unterwegs, seit ein paar Jahren
       nur noch auf queerfeministischen Törns. „Ich bin am Anfang auch einfach
       drauf losgesegelt und hatte teilweise keine Ahnung, was ich da mache“, sagt
       Toni. Mit dem Verein hofft they andere Flinta*-Personen dazu zu ermutigen,
       in die Segelszene einzusteigen.
       
       ## Nachfragen statt Selbstüberschätzung
       
       Neben den queerfeministischen Segeltörns gibt Toni auch immer wieder
       Segelkurse. „[5][Cis Männer] sind einfach gut darin, sich selbst zu
       überschätzen“, erzählt Toni. They erinnert sich an männliche Teilnehmer,
       die schon drei Wochen nach ihrem ersten Segelkurs eine Jacht in Kroatien
       chartern wollten. In den Kursen lernte Toni auch immer wieder cis Frauen
       kennen, die von ihren Partnern halb unfreiwillig zu den Kursen angemeldet
       wurden. Und immer wieder in herausfordernden Situationen sagten: „Nee, also
       das trau ich mir jetzt nicht zu.“
       
       Dass Flinta*-Personen vorsichtiger lernen, fällt auch auf dem Segeltörn
       durch die Schären auf. So hört man an Bord immer wieder Sätze wie: „Ich bin
       mir grad unsicher, ob ich das richtig mache“, „Ich brauche da eventuell
       noch Unterstützung“ oder „Stimmt das so?“.
       
       „In meinem Segelkurs wurde ich nur vom Motorboot aus angeschrien, das hat
       nicht gerade geholfen, was dazuzulernen“, berichtet eine der
       Teilnehmer*innen. „Hier hatte ich das Gefühl, dass mir mit sehr viel mehr
       Geduld begegnet wird.“ Und darum sollte es beim Segeln doch gehen:
       Entschleunigung, Gemeinschaft, sich gegenseitig zu stärken – eben so wie an
       Bord der „Anthana“.
       
       6 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtbin%C3%A4re_Geschlechtsidentit%C3%A4t#Das_singulare_Pronomen_%E2%80%9Ethey%E2%80%9C
   DIR [2] /Vendee-Globe-als-Massenevent/!5748069
   DIR [3] /Segelregatta-Ocean-Race/!5931710
   DIR [4] /Gender-Pay-Gap-in-Berlin/!5916107
   DIR [5] https://queer-lexikon.net/2017/06/15/cis-mann/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabina Zollner
       
       ## TAGS
       
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