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       # taz.de -- Warten in der Schlange: Du bist nicht allein
       
       > Die Warteschlange war schon immer ein Seismograf gesellschaftlicher und
       > privater Verfasstheit. Eine Drängelei durch Geschichte und Wissenschaft.
       
   IMG Bild: Für geordnetes Anstehen ist Disziplin vonnöten (hier vor einer Bäckerei in Rostock 1989)
       
       Es scheint, dass die Warteschlangen zurückkommen nach Deutschland. Bislang
       waren sie etwas, woran sich nur die sehr Alten erinnern konnten; die in
       [1][Westdeutschland] Aufgewachsenen kannten höchstens Schwarzweißfotos von
       Warteschlangen vor Lebensmittelgeschäften nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
       Wenn es Schlangen gab, dann waren es Luxusschlangen vor besonders
       angesagten Restaurants oder Clubs – und das Stehen darin war die
       Bestätigung, die richtige Wahl getroffen zu haben.
       
       Die Schlangen, in denen es um etwas geht, um Essen, um die Frage, wo man
       lebt, das waren die der Anderen: in der Ausländerbehörde oder bei der
       Lebensmittelausgabe der Tafeln. Die meisten hat man ins Internet
       umgeleitet, um Personal zu sparen: Arzttermine, Bahnfahrkarten sind nichts
       mehr, wofür man sich anstellen müsste. Eigentlich. Zu [2][Coronazeiten]
       sind plötzlich sportplatzlange Schlangen vor den Impfzentren aufgetaucht,
       die zwei Jahre später spurlos verschwanden.
       
       Andere scheinen zu bleiben: Vor der Hautarztpraxis um die Ecke windet sich
       morgens eine Schlange von Menschen, die in die offene Sprechstunde kommen,
       weil die festen Termine so rar sind. Die Schlangen vor den Tafeln sind
       inzwischen so lang, dass sie selbst denen auffallen, die sich dort nicht
       anstellen müssen.
       
       Noch sind Warteschlangen für uns das Unerhörte, eine Störung unserer
       störungsfreien Abläufe, und jedes Unternehmen, das seine Kund:innen bei
       Laune halten will, versucht sie zu vermeiden. In den Ländern des Ostblocks
       hat Warten jahrzehntelang den Alltag bestimmt, vor allem, aber nicht nur
       den der Frauen, die sich für Lebensmittel einreihten. Diese Schlangen waren
       ein gefundenes Fressen für US-Soziolog:innen, die dort Anschauungsmaterial
       fanden für ihre Studien zu Gerechtigkeitsempfinden und den Umgang mit
       sozialen Normen, das es in den rundum versorgten USA nicht gab.
       
       Was fanden sie heraus? Ein paar Zahlen: Laut einer Umfrage in Polen
       verbrachten die Frauen dort durchschnittlich 3 Stunden und 37 Minuten pro
       Tag für ihre Einkäufe. 1982 stellte man fest, dass in der
       durchschnittlichen Warteschlange 53 Personen standen, 32 Frauen und 21
       Männer. Und etwas über Machtstrukturen: Selbst in den Schlangen, in denen
       nahezu ausschließlich Frauen drängten, machten sich die wenigen Männern zu
       selbst ernannten Ordnern.
       
       [3][Soziolog:innen lesen die Warteschlange], die in der Regel ohne
       körperliche Gewalt auskommt, als Beispiel dafür, dass Menschen einen
       gemeinsamen Gerechtigkeitssinn entwickeln. Es gibt sogar Stimmen, die in
       der Selbstdisziplin, die für geordnetes Anstehen erforderlich ist, eine
       Voraussetzung für soziales Leben sehen. Warteschlangen mögen als Reihe
       gewordene Mangelverwaltung langfristig für soziale Unruhe sorgen – sie
       selbst sind konservativ und versuchen sich als Struktur zu erhalten. Selbst
       diejenigen, die sie mit Gewaltandrohung vor Vordrängler:innen
       verteidigen, schrecken letztlich vor der Eskalation zurück, um sie nicht zu
       gefährden.
       
       ## Kostspieliges Warten
       
       Laut New York Times hat das Warten in den Ländern des Ostblocks nicht
       unwesentlich zum Bankrott des Systems beigetragen: 30 Billionen Dollar
       sollen in der Sowjetunion jährlich verloren gegangen sein, weil die Bürger
       nicht am Arbeitsplatz waren, sondern [4][vor Läden anstanden]. Das
       monatliche Warten, um Miete und Elektrizität zu bezahlen, soll allein in
       Moskau 20 Millionen Arbeitsstunden gekostet haben. Warteschlangen waren ein
       so selbstverständlicher Anblick in Ländern wie der Sowjetunion, aber auch
       Polen und der DDR, dass man dort gleich einen Begriff dafür geprägt hat:
       sozialistische Wartegemeinschaft.
       
       Das ist nichts im Vergleich zu den Schlangen in der Sowjetunion zwischen
       1939 und 1941, als immer mehr Landbewohner in die Städte kamen. Nach einem
       Bericht des Volkskommissariats für Binnenhandel versammelten sich 33.000
       Menschen in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1939 in Moskau vor den
       Geschäften, in der Nacht auf den 17. April waren es 438.000. Sie kamen mit
       Geschäftsschluss und harrten bis zum nächsten Morgen aus. Waren
       Lebensmittel oder Kleider nach drei bis vier Stunden ausverkauft, blieben
       die Leute bis zur nächsten Lieferung.
       
       Die Menschen schrieben zahllose Briefe an die Obrigkeit, um ihre Notlage zu
       schildern. Im Februar 1940 wandte sich ein Mann aus Nischni Tagil direkt an
       Stalin und schrieb: „Josif Wissarionowitsch, es geschieht etwas
       Schreckliches. Sogar für das Brot muss man sich von zwei Uhr morgens an in
       einer Schlange anstellen und dort bleiben, um zwei Kilo Roggenbrot zu
       bekommen. Man beginnt schlechte Gedanken zu haben. Es ist hart, sein Kind
       hungernd zu sehen.“
       
       Und ein anderer schreibt: „Wenn etwas in einem Geschäft auftaucht, bildet
       sich sofort eine lange Schlange in der Kälte die ganze Nacht lang: die
       Mütter mit den Kindern im Arm im Wind, Männer, Alte, bis zu sechs- oder
       siebentausend Personen. Kurz gesagt, die Menschen sind wie verrückt. Wisst
       Ihr, Genossen, es ist schrecklich, die tollen und sinnentleerten Gesichter
       in den allgemeinen Schlägereien zu sehen, um sich mit ich weiß nicht
       welchem Produkt in den Geschäften zu versorgen. Es ist nicht selten, dass
       Menschen in der Eile erstickt oder zu Tode geprügelt werden.“
       
       ## Höhere Preise sollten Schlangen kürzen
       
       Die Obrigkeit hat die Briefe archiviert. Sie hat versucht, den Schlangen
       ein Ende zu machen und damit den Produktionseinbußen. Nicht dadurch, dass
       sich die Versorgungslage besserte, sondern indem man die Preise erhöhte und
       die Zuteilungsraten drittelte, um die Nachfrage zu senken. Als das nichts
       half, wurde in zahlreichen Städten das Schlangestehen verboten. Vor den
       großen Geschäften standen Polizisten und kontrollierten die Papiere der
       Einkaufenden. Die Menschen vom Land wurden umgehend zurückgeschickt.
       Angehörige der Miliz gewöhnten sich an, Schlangen umzudrehen und die vorne
       Wartenden ans Ende zu verbannen.
       
       Aber es half nichts: Das Volk erfand Camouflagestrategien, um die
       Warteschlangen aufrechtzuerhalten. Die Teilnehmer:innen zerstreuten
       sich, sobald die Polizei auftauchte, und formierten sich neu, wenn sie
       verschwand. Sie taten so, als gingen sie spazieren oder warteten auf die
       Straßenbahn. Die Warteschlangen waren widerständig in ihrer Not und sie
       verschwanden erst mit dem Einmarsch der Deutschen.
       
       Jahrzehnte später wurde das Nichtwartenmüssen in der Bundesrepublik zum
       Ausweis der Überlegenheit: Als Staat, der es nicht schafft, seine
       Bürger:innen unverzüglich mit Autos zu versorgen, muss die DDR zum
       Scheitern verurteilt sein. Die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ist zum
       gefühlten Grundrecht aufgestiegen – kein Wunder, dass die Stimmung in den
       Warteschlangen mies ist.
       
       Vielleicht auch, weil in der Geschichte immer die Machtlosen warten
       mussten, früher in den Vorzimmern der Mächtigen, heute [5][an den
       Economy-Schaltern der Fluglinien], während die Business-Kundschaft längst
       im Flieger sitzt. Unsichtbar, aber allen bewusst klafft neben der Schlange
       derer, die auf die offene Sprechstunde beim Arzt warten, die Lücke der
       Privatpatient:innen, die längst einen Termin haben.
       
       So sind die Schlangen viel mehr als das ästhetische Ärgernis
       aneinandergereihter Gesäße, als die sie ein amerikanischer Soziologe
       beschrieben hat: Sie sind Seismograf individueller wie auch sozialer
       Gereiztheit. Oder Entspanntheit, wenn man es positiv deutet.
       
       Die Autorin hat 2014 das Buch „Warten. Erkundungen eines ungeliebten
       Zustands“ im Ch. Links Verlag veröffentlicht.
       
       8 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Westdeutschland/!t5031048
   DIR [2] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
   DIR [3] https://www.deutschlandfunk.de/soziales-alltagsphaenomen-die-erforschung-des-wartens-100.html
   DIR [4] https://www.nytimes.com/1982/10/24/magazine/life-among-the-russians.html
   DIR [5] /Flugangst-positiv-genutzt/!5946321
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Friederike Gräff
       
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