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       # taz.de -- Naturautorin Nancy Campbell: Worte für verlorene Gegenstände
       
       > Nancy Campbell ist eine der spannendsten Naturautor*innen ihrer
       > Generation. Die taz traf sie zum Spaziergang im Berliner Viktoriapark.
       
   IMG Bild: Parks sind für die Schriftstellerin Nancy Campbell eine Einladung zur Muße für alle
       
       Die Sonne hat die Liegewiesen im Viktoriapark im Berliner Stadtteil
       Kreuzberg in ein ausgedörrtes Stoppelfeld verwandelt. Doch ein Stück
       weiter, im Schatten der großen Ahornbäume, ist es etwas grüner geblieben.
       Hier ist es gar keine Frage, dass sich die schottische Künstlerin und
       Dichterin [1][Nancy Campbell, eine der spannendsten Autor*innen auf dem
       Gebiet des Nature Writings], für die Fotografin ins Gras legt. Campbells
       mäandernde Überlegungen auf den verschlungenen Pfaden des Parks machen für
       einen Moment Pause. Die Pose mag ein bisschen romantisch sein, verrät ihr
       feines Lächeln.
       
       Es ist ein großer Spaß, mit Nancy Campbell, deren Gastprofessur am
       Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende
       Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin in diesen Tagen zu Ende
       geht, einen Vormittag lang spazieren gehen zu dürfen. Denn das Thema der
       1978 geborenen und in Oxford lebenden Autorin ist, was Natur und Kultur
       verbindet und bedroht. Wo ließe sich darüber besser sprechen als in einem
       Park?
       
       Zum Beispiel über „The Library of Ice“: Das Buch erzählt von einer Reihe
       von Künstlerresidenzen in Grönland, Island und der Schweiz, wo sich
       Campbell mit dem arktischen Klima befasste, einer Lebensgrundlage und
       Wissensquelle für marginalisierte indigene Kulturen.
       
       Das Geschick der Jäger der Innuit, Veränderungen in der Umwelt zu erkennen.
       Die [2][Symmetrie von Schneeflocken], die Dunkelheit und das Licht, das
       hierarchielose, aber nicht unsortierte Nebeneinander des ganz Kleinen und
       ganz Großen: In den Polarschichten, berichtet Campbell, sind Aufzeichnungen
       über das Klima vergraben, die Millionen von Jahren zurückreichen und
       derzeit ebenfalls ausradiert werden. Viel geht es in ihren Büchern ums
       Erforschen, viel auch ums Bewahren.
       
       Sie veröffentlichte einen preisgekrönten Gedichtband über das harte Leben
       im hohen Norden („Disko Bay“) und das einzige Buch, das auf Deutsch
       erschien: „Fünfzig Wörter für Schnee“, in dem es um die verschiedensten
       kulturellen Kodierungen der weißen Substanz geht. Ihr Seminar an der Freien
       Universität hieß „On water and other voices“, und auch hier, so Campbell,
       hat sie mit ihren Student*innen zur Begegnung von Natur und Literatur,
       Mensch und Kultur gearbeitet.
       
       ## Deutsche Liebe zur Naturverklärung
       
       „Meine Obsession mit der Kälte und dem Licht im Norden hat sicher damit zu
       tun, dass ich in Schottland und im Norden Großbritanniens aufgewachsen
       bin“, berichtet Campbell, als wir einen blühenden Trompetenbaum im Park
       passieren – eine Baumart, die ursprünglich in Nord- und Mittelamerika
       beheimatet ist, nun aber auch hier als Bienenweide und Trockenkünstler
       geschätzt wird.
       
       Bald stehen wir vor dem künstlichen Wasserfall in felsiger Bergkulisse.
       Angeordnet wurde der Park 1888 von Kaiser Friedrich III., der mit der
       Tochter der legendären Queen Victoria verheiratet war – daher der Name des
       Parks. Dieser Ort erzählt viel von der Liebe der Deutschen zur
       Naturverklärung, aber auch darüber, dass das viele Wasser den Eichen
       nebenan wenig zu helfen scheint.
       
       Da ist es wieder, das feine Lächeln von Nancy Campbell. „Vielleicht sollte
       ich als Nächstes über die Wüste schreiben“, sagt sie. Selbst noch die
       vermeintlich profansten Phänomene werden im Gespräch mit Nancy Campbell zum
       Schillern gebracht.
       
       Die Rosen in den üppigen Privatgärten und auf den Balkons in weniger
       wohlhabenden Teilen der Stadt? Eine Pflanze, die keinen Wert besitzt außer
       ihrer Schönheit – und die doch 1912 unter dem Slogan [3][„Brot und Rosen“]
       von den streikenden Textilarbeiterinnen in Massachusetts eingefordert
       wurde. Sie kämpften eben nicht nur für gerechten Lohn, sondern auch für
       Teilhabe am guten Leben.
       
       Der Rasen, auf dem sie sich gerade noch rekelte? Eine herrliche Einladung
       zur Muße quer durch alle Bevölkerungsschichten heute, aber auch eine
       Erfindung der britischen Aristokraten, die der Welt zeigen wollten, wie
       viel Land sie besaßen. Vielleicht wird der Rasen keine Zukunft haben, wenn
       es immer heißer und trockener wird. Das mag für uns unbequemer werden,
       meint Campbell. „Aber für Menschen in Grönland sind die Folgen des
       Klimawandels im Anthropozän jetzt schon existenziell.“
       
       ## Stille Ehrfurcht und wissenschaftliche Analyse
       
       Auch an diesem Vormittag wird es immer wärmer, also suchen wir uns eine
       Parkbank, eine große Esche wirft Schatten in komplexen geometrischen Formen
       auf das Gesicht Nancy Campbells. Das Gespräch wird konzentrierter. Anders
       als bei vielen Autor*innen, die sich im Genre Nature Writing bewegen,
       geht es bei ihr nicht nur darum, Idyllisches zu betrachten, sondern die
       Natur zu reflektieren – und zwar sowohl auf einer Ebene der stillen
       Ehrfurcht, wie sie sagt, als auch auf einer der wissenschaftlichen Analyse.
       
       Und da ist noch etwas: Als Kind eines Bildhauers und Kunsthistorikers und
       einer Weberin entwickelte Nancy früh Interesse am Handwerk und der
       Buchdruckkunst. Ihre Leidenschaft für Kunst und Natur vereinte sie in
       zahlreichen Künstlerbüchern wie „Vantar“ über die Geisterstadt Siglufjörður
       im Norden Islands oder „Itoqqippoq“ über das Gefriertrocknen von Wäsche im
       langen grönländischen Winter und die Vorfreude auf den Frühling, wenn die
       Wäsche beginnt, im Wind zu tanzen.
       
       „Das isländische Wort Vantar“, sagt Campbell, „bezieht sich sowohl auf
       einen verlorenen Gegenstand oder eine verlorene Person als auch auf die
       Erfahrung von Verlust.“ Und „Itoqqippoq“? „Das ist einfach das
       grönländische Wort für Wäscheleine“, lacht sie. Vielleicht ist es die Liebe
       der Buchkünstlerin zu beweglichen Lettern, die sie ihre Worte so sorgfältig
       abwägen lässt, ihre Sprache für die materiellen Oberflächen so genau.
       
       ## Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben
       
       Das Gespräch im Viktoriapark neigt sich dem Ende zu. Doch vorher muss es
       noch um das neueste Buch von Nancy Campbell gehen, das letztes Jahr in
       England erschien und hoffentlich bald ins Deutsche übertragen wird.
       „Thunderstone“ ist ein erschütternder autobiografischer Bericht über ihren
       Ausstieg aus dem bürgerlichen Leben.
       
       Während eines Stipendiums in Bamberg 2019 wurde ihr gesagt, dass die
       Freundin, von der sie sich eigentlich trennen wollte, einen Schlaganfall
       erlitten hat. Bei ihrer Ankunft im Krankenhaus erfährt sie, dass Anna eine
       schwere Aphasie erlitten hatte, dass ihr die Worte abhanden gekommen sind
       wie den Inuit die Worte fürs verlässliche Eis.
       
       Campbell beschreibt, wie sie zunächst Anna in der gemeinsamen Wohnung
       pflegt, auch während des ersten Corona-Lockdowns, als in den Kliniken
       keiner mehr ans Telefon geht. Erst als sie das Gefühl hat, sie allein
       lassen zu können, stellt sie sich einen winzigen Wohnwagen in ein
       Brennnesselfeld am Rand der Stadt, zwischen einem Kanal und einer
       Eisenbahnlinie.
       
       ## Unwahrscheinliche Karrieren in der Wissenschaft
       
       In der illustren Gesellschaft einer Handvoll Aussteiger, die sich mithilfe
       von Tauschwirtschaft und Gastfreundschaft über Wasser halten, denkt sie
       über die Frage der Authentizität von Texten wie diesem nach, über den
       Schwachsinn ihrer I-Ging-App und die Reparatur eines Ofens, der zu viel
       Kohlenmonoxid ausstößt – und über die unwahrscheinlichen Karrieren sehr
       weniger Menschen in der Wissenschaft, die nicht die „richtige“
       Klassenzugehörigkeit hatten.
       
       Die geometrischen Formen der Baumblätter scheinen noch schärfer zu werden,
       als Campbell über die Frage nachdenkt, wie man ein Leben im Wohnwagen
       beschreiben kann, ohne mit [4][Henry David Thoreaus „Walden“] verglichen zu
       werden, aber auch ohne im Klappentext glänzender Bildbände über schicke
       Tiny Houses zu landen. „Ich bin in einer armen Familie groß geworden“,
       merkt sie nur trocken an. „In gewisser Weise war ich eine Zeit lang
       schlicht im Überlebensmodus.“
       
       Es sei beruhigend, dass sie keine Abstiegsängste habe. Und dann, nach einer
       der längsten Denkpausen: „Es ist einfach eine Lösung, die mir kreative
       Freiheit verschafft“.
       
       8 Aug 2023
       
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