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       # taz.de -- Illustratorin über Argentinien: „Wie man mit Farbe erzählt“
       
       > Sole Otero zeichnet Graphic Novels über ihr Herkunftsland. Ein Gespräch
       > über Häuser italienischer Einwanderer und eine neue Generation von
       > Illustratorinnen.
       
   IMG Bild: Wie es wohl weitergeht? Ich weiß nur, dass dieses Viertel immer mehr verkommt. Seite aus „Naphtalin“
       
       wochentaz: Ein Autorenfoto auf Ihrer Website zeigt Sie beim Zeichnen in
       einem Café in Buenos Aires. Sind diese traditionsreichen Orte Ihrer
       Heimatstadt Ihr Arbeitsplatz?
       
       Sole Otero: Seit drei oder vier Jahren [1][lebe ich schon nicht mehr in
       Buenos Aires], aber davor gehörte es zu meiner täglichen Routine, und ich
       ging immer in dasselbe Café, um zu zeichnen. Eigentlich waren es zwei
       oder drei Cafés, die ich bevorzugte, aber es gab ein bestimmtes, wo ich
       zusammen mit meinen Freunden zeichnete. Meistens trafen wir uns dort
       zufällig. Meine Freunde gehen immer noch dorthin.
       
       In welchem Stadtteil liegt dieses Café? 
       
       In Palermo. Es ist eines der wenigen nicht modernisierten Lokale in diesem
       Viertel, das inzwischen ein bisschen hip geworden ist.
       
       „Naphthalin“, Ihre jüngste Graphic Novel. spielt außerhalb des Zentrums, in
       San Martín, einem Vorort von Buenos Aires. In dem Buch erzählen Sie aus
       der Perspektive der jungen Rocío deren Familiengeschichte, die mit der
       Auswanderung der italienischen Urgroßmutter nach Argentinien beginnt. Wie
       ist das Projekt entstanden?
       
       Die Idee zu dieser Geschichte entstand, als meine Großmutter starb. Damals
       konnte ich mich nicht mehr von ihr verabschieden. Ich habe sie vor ihrem
       Tod nicht mehr gesehen. Sie ist 2007 gestorben, und ich beschloss, eine
       kleine Comicseite über sie zu machen. Danach blieb die irgendwie in meinem
       Kopf hängen, und mit der Zeit, viel später, entstand daraus das Projekt
       einer Graphic Novel.
       
       Also ist „Naphthalin“ eine autobiografische Erzählung? 
       
       Es ist ein autofiktionales Buch. Es basiert vor allem auf dem realen Leben
       meiner Großmutter, doch es gibt viele Dinge, die darin anders als in der
       Wirklichkeit zusammengesetzt sind. Und die Figur Rocío hat etwas von mir
       aus verschiedenen Momenten meines Lebens, aber sie entspricht nicht meiner
       Persönlichkeit. Ganz und gar nicht.
       
       Farbe spielt in dem Buch eine wichtige Rolle. 
       
       Schon seit Langem interessiere ich mich für chromatische Erzählungen, seit
       „Poncho fue“, meiner ersten Graphic Novel 2016. Es ist auch eine Art Studie
       darüber, wie man eine Geschichte mit Farbe erzählt. Von da an habe ich
       damit weitergemacht.
       
       In „Naphthalin“ verbinden Sie durch Rückblenden Rocíos Gegenwart mit der
       Vergangenheit ihrer Großmutter Vilma. Deren Haus spielt dabei eine zentrale
       Rolle. Wie kam es zu dieser Dramaturgie? 
       
       Das Haus ist nicht wirklich das meiner Großmutter väterlicherseits, sondern
       das meiner Großmutter mütterlicherseits, in dem ich viel mehr Zeit
       verbracht habe. Mich interessierte, wie sich dieses Haus während der ganzen
       Zeit, in der die Familie dort lebte, so stark verändert hat.
       
       Das Haus erzählt vom Ankommen in Argentinien? 
       
       Es hat mich fasziniert, wie all diese Menschen, die aus Italien kamen, die
       aus Großfamilien stammten, ohne viel Geld, ohne irgendetwas, es schafften,
       einen Platz zum Leben zu finden und zu bauen, zu zerstören und zu bauen,
       während sie versuchten, ihre Familie weiterzubringen. Diese Häuser, die ein
       bisschen improvisiert und umgebaut sind, haben viel mit dieser Art, zu
       leben, zu tun.
       
       Eine Freundin begleitet Rocío beim Einzug in das ehemalige Haus der
       Großmutter. Ihnen fällt auf, wie anders als in Buenos Aires es in San
       Martín ist. Inwiefern? 
       
       Ich habe einige Jahre in Buenos Aires gelebt, aber ich bin in der
       Peripherie aufgewachsen. Ins Stadtzentrum bin ich damals nicht gegangen.
       Ich kannte es nicht. Außerhalb aufzuwachsen hat ein ganz anderes Gefühl,
       vor allem, weil es sich viel mehr nach Unterschicht anfühlt. Manchmal ist
       es auch gefährlicher. Vor allem in der Zeit der Krise wurde das Leben dort
       ganz anders.
       
       Rocíos Großmutter ist eine komplizierte Person. Doch rückblickend erkennt
       die Enkelin in deren Biografie auch Gründe für die Bitterkeit. Die Familie
       flieht 1923 Jahre vor Mussolini aus Italien, und Vilma wächst in der Ära
       Präsident Peróns in Argentinien auf. Was hat Sie bewogen, die historischen
       Ereignisse nur dezent im Hintergrund anzudeuten? 
       
       Ich glaube, mein Interesse an dieser Darstellung hat mit der Sichtweise
       meiner Großmutter zu tun. Für sie, wie für viele Frauen oder allgemein
       andere Menschen, war Politik eine Art Feind, ein Eindringling in das Leben
       der Familie, etwas, das man vermeiden wollte und das schließlich auch zu
       einer politischen Haltung wurde. Und diese Figur setzt sich mit der Welt
       draußen nur auseinander, wenn es unbedingt notwendig ist. Das zeigt das
       Buch. So wird auch die Diktatur fast nicht erwähnt. Es gibt da etwas
       Subtiles, [2][das von der Diktatur spricht.]
       
       Doch offensichtlich haben die äußeren Umstände Auswirkungen auf das Leben
       der Menschen in Ihrer Erzählung. 
       
       Sicher, aber die Geschichte wird so erzählt, als ob jemand sie nicht zu
       sehr sehen will. Das ist beabsichtigt, bis zum Schluss. Deshalb wollte ich
       Rocíos Geschichte in der Krise 2001 ansiedeln. Am Ende kommt das politische
       Leben ins Haus, denn 2001 war ein solcher wirtschaftlicher Schock, dass
       Rocío zwangsläufig versteht, dass sie sich engagieren muss.
       
       Nach massiven Protesten gegen den Corralito, eine Maßnahme gegen die
       Kapitalflucht, tritt der Finanzminister Cavallo zurück. Eine Zeitung mit
       der Schlagzeile liegt nun auf Rocíos Küchentisch. War das Jahr 2001 auch
       für Sie ein einschneidender Moment? 
       
       2001 war ich jünger als Rocío in „Naphthalin“. Es hat mich also nicht so
       betroffen wie andere Leute, weil ich noch nicht gearbeitet habe. Ich sah es
       als etwas Seltsames, das um mich herum geschah, mit meiner Familie, mit den
       Eltern meiner Freunde, mit der Situation im Allgemeinen und den Protesten,
       aber aus der Sicht einer Zuschauerin und ohne wirklich zu verstehen. Aber
       ja, am Ende hatte es einen großen Einfluss darauf, wie sich das Land in den
       folgenden Jahren entwickelte, die Jahre der Zahlungsunfähigkeit, der vielen
       Präsidentenwechsel. Und ich denke, es hatte einen großen Einfluss auf den
       Geist der folgenden Jahre. Argentinien ist ein Land, das sich ständig in
       der Krise befindet.
       
       Manchmal werden Sie mit der argentinisch-deutschen Graphic-Novel-Autorin
       Nacha Vollenweider verglichen. Gibt es so etwas wie eine neue Generation
       von Comiczeichnerinnen in Argentinien? 
       
       Ja, ich glaube, schon. Nacha ist eigentlich eine sehr gute Freundin von
       mir. Mit ihr zusammen bilden wir auch ein kleines Kollektiv, das sich
       „Línea Peluda“ nennt, ein Kollektiv von jungen Frauen, die Comics machen.
       Sie und ich zeichnen schon seit vielen Jahren Comics und wir haben uns
       zusammengetan. Dann kamen andere Leute in unserem Alter dazu, die später
       anfingen, Comics zu zeichnen. Außer uns gibt es noch andere Gruppen von
       Mädchen, die jünger oder gleichaltrig sind, aber andere Interessen an
       Comics haben. Und am Ende tauchten Mädchen auf, die schon immer gezeichnet
       haben, aber nicht so sichtbar waren, und deshalb gibt es jetzt
       Comicfestivals wie „Vamos las Pibas“, die nur für Mädchen sind. Ich denke,
       dass Comics von Frauen und dissidenten Identitäten in Argentinien jetzt
       sehr viel Gewicht haben.
       
       3 Jul 2023
       
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