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       # taz.de -- Von Dada bis in die Gegenwart: Utopie der Kunstfreundschaft
       
       > Gemeinschaftskunst und Kunstgemeinschaften: „Amitiés – Freundschaften“ im
       > Wolfsburger Kunstmuseum zeigt kollektive Kunst.
       
   IMG Bild: Beirat Jean-Jacques Lebel und Kuratorin Blandine Chavannne vor dem antifaschistischen Wimmelbild
       
       Wolfsburg taz | Diese gewaltige Malerei und Material-Collage wollte Andreas
       Beitin, Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg, schon lange einmal ausstellen:
       das „Grand tableau antifasciste collectif“ – das „Große kollektive
       antifaschistische Gemälde“ – von 1960.
       
       Das Gemeinschaftswerk von sechs Künstlern, initiiert durch den
       französischen Maler Jean-Jacques Lebel, reflektiert ein grausames Ereignis:
       die Folterung und Gruppenvergewaltigung der jungen algerischen
       Freiheitskämpferin Djamila Boupacha durch französische Soldaten. Sie war,
       wie sich später herausstellte: zu Unrecht, verdächtigt, ein Bombenattentat
       verübt zu haben.
       
       Lebel, damals in Mailand tätig, hatte zudem gerade eine enge Freundin durch
       einen Femizid in den USA verloren. In seiner verzweifelten Wut begann er
       spontan am linken Rand der Leinwand – mit einem transkulturellen
       Totempfahl. Seine Kunstfreunde folgten nach und nach, vervollständigten,
       jeder mit seiner eigenen Technik und Ausdrucksweise, das
       Allover-Wimmelbild.
       
       1961 in Mailand ausgestellt, wurde es umgehend von der Polizei
       beschlagnahmt und erst 27 Jahre später, in desolatem Zustand, den Künstlern
       zurückgegeben und schlummerte dann noch weitere Jahre im Museumsdepot.
       
       ## Anarchisch entstanden
       
       Beitin hätte es bereits 2018 gern in seiner Ausstellung „Flashes of the
       Future: Die Kunst der 68er oder Die Macht der Ohnmächtigen“ an seiner
       vorherigen Wirkungsstätte, dem Ludwig-Forum in Aachen, gesehen. Die
       Ausstellung widmete sich dem Kulminationspunkt dieser hochpolitischen
       Jahre, in denen 1962 auch Algerien seine staatliche Unabhängigkeit
       erlangte.
       
       Nun steht das 20 Quadratmeter große Monumentalwerk allein schon durch seine
       physische Präsenz im Zentrum einer Wolfsburger Ausstellung, die sich mit
       Anlässen, Arbeitsweisen und Produkten spontaner, unerwarteter
       Künstler:innen-Freundschaften auseinandersetzt. Mit dem Mucem aus Marseille
       ersonnen, liegt der Akzent auf französischen Allianzen.
       
       Der Querschnitt klammert etablierte, konstante Partnerschaften wie Gilbert
       & George oder Fischli & Weiss ebenso konsequent aus wie zeitgeistige
       Kollektive, [1][etwa Ruangrupa, künstlerische Leiter der letztjährigen
       Documenta], oder Forensic Architecture. Aber leider fehlt auch die große,
       Disziplinen wie Nationen übergreifende, produktive linke Gruppe
       europäischer Künstler:innen und Intellektueller: die Situationistische
       Internationale, kurz SI. Sie agitierte von 1957 bis 1972 und war geistiger
       Nährboden der Pariser Revolten im Mai 1968.
       
       Anhand von 100 Werken aus bildender Kunst, Literatur, Musik, Film und Video
       taucht die Ausstellung systematisch in die Geschichte und das Wesen
       künstlerischer Arbeitsfreundschaften ein. Das Auswahlkriterium: Die Werke
       mussten selbst initiiert, bestenfalls anarchisch entstanden sein, also
       keine Auftragsarbeit oder aus Großateliers, wie sie heute Jeff Koons oder
       Olafur Eliasson betreiben, und einem programmatisch links-emanzipatorischen
       Impuls folgen.
       
       ## „Arschloch-Sonette“
       
       Dafür griffen die Kurator:innen dann noch tiefer zurück als auf die
       titelgebenden Dadaisten ab 1916. Denn das älteste Exponat ist die
       Faksimileausgabe samt Digitalisat des „Album zutique“ von 1871/72 aus dem
       Dunstkreis der [2][Pariser Commune], an dem maßgeblich die beiden
       symbolistischen Lyriker Arthur Rimbaud und Paul Verlaine beteiligt waren.
       
       Das Sammelsurium aus anstößigen Texten und obszönen Zeichnungen enthält
       ihre fäkallastige „Arschloch-Sonette“, eine Parodie auf ihren
       Dichterkollegen Albert Mérat, von beiden per Initialen signiert. Die
       „Zutisten“ riefen zum Aufstand entfesselt ausschweifender Sinnesfreuden
       auf, provozierten dabei bewusst alle Konservativen und ihren „guten
       Geschmack“.
       
       Frauen findet man nur vereinzelt in den gewürdigten Kunstgemeinschaften –
       Isadora Duncan, Niki de St. Phalle, Yoko Ono, Jenny Holzer oder die
       [3][feministische Kampfgruppe Guerilla Girls] –, zeichnet doch solche Bünde
       manch maskulines Stereotyp aus.
       
       So basierte die mit 700 Werken ungemeine Produktivität von „Rainer & Roth“
       – das waren zwischen 1972 und 1983 der Österreicher Arnulf Rainer und der
       Schweizer Dieter Roth – auf ungezügeltem Alkoholkonsum und dem Zerstören
       des vom anderen Geschaffenen, um die Bruchstücke dann vereint als
       Bricolage, übermalten Fotozusammenschnitt oder Assemblage absurden Humors
       wieder zusammenzusetzen.
       
       ## Paul Verlaines Gewaltexzess
       
       Gegen die Idee des anderen auch gewaltsam zu verstoßen, brachte somit eine
       dritte Idee hervor, die sich in dieser Form in keinem Einzelwerk von Rainer
       oder Roth findet: eine „dritte Person“ als überindividueller Autor.
       
       Künstler:innen-Freundschaften und ihre Werkergebnisse sind also selten
       Ausbund schierer Harmonie, wie ja schon Verlaine und Rimbaud demonstriert
       hatten. Ihre homoerotische Beziehung währte nur zwei Jahre und endete in
       einem von Eifersucht getriebenen Gewaltexzess des Älteren, Paul Verlaine,
       der dafür zwei Jahre ins Gefängnis musste.
       
       Ähnlich erging es wohl manchem Surrealisten um André Breton nach den
       gemeinschaftlich gezeichneten „Cadavres exquis“ oder, 1921, der Signatur
       eines Paravents, denn Balthus, Max Ernst, Alberto Giacometti und Co. kennt
       man eher als einzelgängerische Konkurrent:innen, denn durch stete
       Zusammenarbeit. Politische Grenzen und Systeme taten das Übrige zum
       Auseinandergehen.
       
       Was aber ist es dann, das immer wieder Menschen zur gemeinsamen Produktion
       zusammenfinden lässt, sie zumindest zeitweilig die partnerschaftliche
       Kreativität dem Einzelkämpferlos vorziehen, das „Ich“ gegen das „Wir“
       eintauschen lässt?
       
       Sicherlich, kollegiale Kritik dient dem eigenen künstlerischen
       Reifeprozess. Es ist aber wohl das Experiment im gegenseitigen Vertrauen,
       eine Gesellschaftsutopie im Kleinen, die auf die Qualität des Rhizoms setzt
       – ein unhierarchisches Geflecht, das allen ein Mehr an Freiheit bieten
       kann, im besten Falle: die Kraft zu Überpersönlichem.
       
       Amitiés – Freundschaften. Gemeinschaftswerke von Dada bis heute: bis 24.
       9., [4][Kunstmuseum Wolfsburg]. Begleitpublikation für 39 Euro im Museum
       
       15 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Symposium-zur-documenta15/!5910506
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   DIR [4] https://www.kunstmuseum.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bettina Maria Brosowsky
       
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