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       # taz.de -- Hass gegen Queere: Es sind die Verhältnisse, Chérie
       
       > Zerrüttete Gesellschaften erzeugen Gewalt, queere Menschen werden
       > besonders oft zur Zielscheibe. Law-and-Order-Politik bietet dagegen
       > keinen Schutz.
       
   IMG Bild: Szene auf dem Lesbisch-schwulen Stadtfest in Berlin-Schöneberg
       
       Das war mal wieder eine Woche, eine, die [1][gekrönt wird vom
       Lesbisch-schwulen Stadtfest in Berlin-Schöneberg]. Eine trans Frau gewinnt
       die Wahl zur Miss Niederlande, die Internettrolle heulen auf. Das neue
       rechte Medienportal Nius des ehemaligen Bild-Chefredakteurs [2][Julian
       Reichelt] und seines milliardenschweren Förderers Frank Gotthardt
       veröffentlichte eine niederträchtige Doku über trans Menschen, in der die
       Hetzer von Nius ernsthaft behaupten, „trans Aktivisten“ seien die größte
       Gefahr für die Demokratie.
       
       Wie gefährlich das alles ist, sah man diese Woche in der Berliner
       Kriminalitätsstatistik: Ein lesbisches Paar wurde beleidigt, getreten und
       geschlagen, eine nichtbinäre Person verprügelt. Und das sind nur die
       Straftaten, die der Polizei gemeldet wurden. Ich höre fast jede Woche in
       meinem Umfeld von Beleidigungen und Gewalt auf der Straße.
       
       Als Gruppe, die besonders bedroht ist, müssen wir uns überlegen, wie man
       gesellschaftliche Bedingungen schafft, in denen es uns gut geht. Manche
       queere Menschen haben darauf einfache Antworten: Law and Order. Stefan
       Evers, der schwule Berliner Finanzsenator von der CDU etwa fordert mehr
       Videoüberwachung als Werkzeug gegen queerfeindliche Gewalt. Nur: Mehr
       Polizei, härtere Strafen, mehr Überwachung, das geht meistens für
       diejenigen schief, die noch unter anderen sozialen Diskriminierungen leiden
       als Queerness. Evers ist cis, ein Mann, weiß, Deutscher und vor allem:
       bürgerlich.
       
       Die Polizei war noch immer auf seiner Seite. Wer hingegen trans, weiblich
       gelesen, eine Person of Color oder einfach arm ist, wird schneller Opfer
       der Polizei, als von ihr geschützt zu werden. Es ist kein Zufall, dass in
       Frankreich der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen zu
       den beliebtesten Parteien unter verheirateten schwulen Wählern gehört. Die
       sind meist älter und wohlhabender als Queers im Schnitt.
       
       ## Kein guter Ort für Minderheiten
       
       Auch hierzulande gibt es prominente queere Persönlichkeiten in Parteien des
       rechten Spektrums wie der AfD oder der CDU. Sie sind sich sicher, dass
       ihnen nichts passieren wird, sie sind ja geschützt durch ihre Hautfarbe und
       ihr Geld. Nach dem Brexit-Votum postete ein User einen Tweet mit einem
       brutalen Gleichnis: „Ich hätte nie gedacht, dass Leoparden mein Gesicht
       fressen“, weint die Frau, die die Leoparden-fressen-Gesichter-Partei
       gewählt hat.
       
       Der Tweet ging viral, seitdem ist er ein Meme über Menschen, die von den
       Folgen ihrer eigenen politischen Handlungen überrumpelt wurden. Leute wie
       Stefan Evers, Jens Spahn und Alice Weidel und ihre queeren
       Unterstützer:innen müssen aufpassen, dass ihre Gesichter nicht von
       genau den Leoparden gefressen werden, die sie selbst losgelassen haben.
       
       Eine zerrüttete Gesellschaft ist kein guter Ort für Minderheiten. Doch auch
       die angeblich progressive Regierung tut gerade das Ihre, um unsere
       Lebensbedingungen zu erschweren. Die eher liberale als linke Koalition
       nimmt den Menschen das Brot aus der Hand und gibt ihnen dafür eine
       Regenbogenflagge.
       
       Die amerikanische Philosophin Nancy Fraser (nicht zu verwechseln mit
       unserer autoritären Innenministerin Nancy Faeser) prägte dafür den Begriff
       [3][„progressiver Neoliberalismus“.] Wo die Politik nur noch dem Kapital
       zudient, statt die wirtschaftliche Lage der Mehrheit im Blick zu behalten
       und dieser ein halbwegs gutes Leben zu ermöglichen, nutzt sie gerne die
       Sache von Minderheiten, um sich trotzdem einen fortschrittlichen Anstrich
       zu geben: Seht her, manchen Leuten geht es besser; euch nicht, aber diesen
       Leuten da drüben, die so anders leben als ihr.
       
       Das ist eine zynische Instrumentalisierung von Minderheiten. Und diesen
       Minderheiten, auch uns, wird das schlussendlich am meisten auf die Füße
       fallen. Wenn sich Menschen in ihrer wirtschaftlichen Situation bedroht
       fühlen – sei es, weil sie bereits in die Armut oder Prekarität abgerutscht
       sind, sei es, weil sie sehen, wie schnell das gehen kann –, suchen sie sich
       Schuldige.
       
       Im Landkreis Sonneberg, wo gerade ein AfD-Politiker zum Landrat gewählt
       wurde, leben besonders viele vom Mindestlohn. [4][Dessen niederträchtige
       Minimalerhöhung] um nur 40 Cent in Zeiten anhaltender Inflation ist ein
       Schlag ins Gesicht all dieser Menschen. Und wer geschlagen wird, will seine
       Wut und seinen Schmerz weitergeben. Und wer an die oben nicht rankommt oder
       das glaubt, tritt mit Vorliebe nach unten.
       
       Das ist moralisch verwerflich, ja. Doch statt zu hoffen, dass Menschen ihre
       niedersten Instinkte und psychologische Mechanismen durch Tadel von oben
       verändern, könnte man dafür sorgen, dass ihre Lebensbedingungen so sind,
       dass sie sich gar nicht bedroht fühlen von Veränderungen in anderen
       Lebensbereichen, dass es ihnen schlicht egal ist, dass überall skurrile
       Minderheiten auftauchen, die alles anders machen als sie.
       
       ## Materielle Sicherheit für Selbstbestimmung
       
       Statt daran zu appellieren, doch bitte die richtige Meinung zu haben,
       könnte man auch versuchen, ihre Lebensbedingungen so zu gestalten, dass
       diese Menschen gar keinen Grund dazu sehen, rechten Rattenfängern in die
       Arme zu laufen. Gerne watschen Konservative, Liberale und sogar Leute, die
       von sich denken, sie seien links, solche materialistischen Ansätze als
       unnütz ab.
       
       Aber trotz all des Händeringens in Talkshows, zusätzlicher Budgets für
       Aufklärungskampagnen und wohlfeiler Konzerte – einfach mal dafür zu sorgen,
       dass Menschen keine Angst vor Veränderung haben müssen, das haben wir noch
       nicht versucht.
       
       Für mehr materielle Sicherheit von uns allen zu kämpfen, würde uns Queers
       auch am meisten helfen. Denn neben der Gewaltstatistik gibt es eine Zahl,
       auf die noch kein Licht gefallen ist: Wie geht es Queers eigentlich
       wirtschaftlich? Sven Lehmann, Queer-Beauftragter der Bundesregierung,
       [5][sagte letztes Jahr in dieser Zeitung,] dass Queersein „auch ein höheres
       Risiko bedeutet, an Depressionen zu erkranken oder wohnungslos zu werden“.
       
       Die queerpolitische Sprecherin der Linken, Kathrin Vogler, [6][sagte
       Buzzfeed:] „Die soziale Lage von LSBTIQ* wird in den gesellschaftlichen
       Debatten weitgehend ausgeblendet oder sogar verzerrt dargestellt. Die
       Community erscheint in der Öffentlichkeit als fröhlich-bunte Gemeinschaft
       überwiegend gebildeter und gut verdienender Menschen.“ Das sei ein
       Klischee, das daher komme, dass sich finanziell gut gestellte Queers eher
       outen könnten.
       
       Zur Selbstbestimmung gehört nicht nur die unkomplizierte Änderung des
       Geschlechtseintrags, sondern auch materielle Sicherheit. Hoher Mindestlohn,
       großzügiges Bürgergeld, Wohnungen in öffentlicher Hand, die Abschaffung der
       Schuldenbremse, das alles sind so gesehen explizit queere Forderungen –
       worüber sich auf dem Lesbisch-schwulen Straßenfest gut bei einem Bier
       diskutieren lässt.
       
       15 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Caspar Shaller
       
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