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       # taz.de -- Buch zur Globalgeschichte Afrikas: Mit Füßen getretene Menschenwürde
       
       > Die Moderne als Erfolgsgeschichte Europas? Das kann man auch anders
       > sehen. Howard W. French erzählt von der tragischen Rolle, die Afrika
       > dabei spielt.
       
   IMG Bild: Ruinen einer frühen Zuckermühle, Florida. Solch gefährliche Maschinen wurden auf Sklavenplantagen zur Verarbeitung von Zucker eingesetzt
       
       Mit neueren Forschungsergebnissen und guten Argumenten lässt Howard French
       in seinem neuen Buch „Afrika und die Entstehung der modernen Welt“ das
       dominierende Geschichtsbild der reichen Länder Europas und Amerikas in sich
       zusammenstürzen, dem zufolge es die Gelehrten und Abenteurer Europas waren,
       die den Weg in die Neuzeit bahnten.
       
       Auf über 500 außerordentlich gut lesbaren Seiten erklärt French,
       langjähriger Korrespondent der New York Times und Journalistik-Professor an
       der New Yorker Columbia Universität, wie die Schätze des afrikanischen
       Kontinents, Gold und menschliche Arbeitskraft, den Aufstieg des Globalen
       Nordens erst ermöglichten. Dass also eigentlich Afrika im Zentrum der
       Geschichtsschreibung stehen müsste.
       
       Weniger der Wunsch, neue Seewege zu finden, trieb Portugiesen und Spanier
       seit dem 15. Jahrhundert über die Meere und in unbekannte Weltgegenden,
       sondern Berichte von großen Goldvorkommen in Afrika. Und sehr schnell
       fanden die Seefahrer und ihre Finanziers heraus, dass der Handel mit
       afrikanischen Sklaven noch viel höhere Gewinne abwarf als der mit Gold. Auf
       den atlantischen Inseln und später in der Karibik rissen sich die Besitzer
       von Plantagen für Zucker, Kaffee oder Baumwolle um die menschliche Fracht.
       
       Dass es [1][Sklaverei] in Afrika auch vorher schon gab und dass lokale
       Stammesführer und die Herrscher der großen afrikanischen Königreiche mit
       den europäischen Sklavenhändlern kollaborierten, verschweigt der Autor
       nicht, betont aber, dass in Afrika niemand eine Vorstellung von dem hatte,
       was die verkauften Sklaven in der Neuen Welt erwartete.
       
       ## Sklaven in den Zuckerfabriken
       
       Wohl mehr als 12 Millionen Afrikaner, überwiegend junge Männer, gelangten
       auf diese Weise in die Karibik und nach Nordamerika, weitere 6 Millionen
       kamen vermutlich auf dem Weg dorthin zu Tode. Kein Gesetz schützte Leib und
       Leben der Sklaven, die wie Waren im Zwischendeck der Schiffe gestapelt
       wurden und sich danach für ihre Besitzer buchstäblich zu Tode schuften
       mussten.
       
       Frenchs Schilderung der Zuckersklaverei in der Karibik gehört zu den
       stärksten Passagen seines Buches. Mit jedem Satz über die qualvolle und
       gefährliche Arbeit auf den Feldern und in den Zuckerfabriken ruft er die
       Leiden der Sklaven und ihre mit Füßen getretene Menschenwürde ins
       Bewusstsein seiner Leser:innen.
       
       Historische Statistiken bricht French auf eingängige Aussagen herunter,
       etwa wenn er notiert, dass im 18. Jahrhundert die durchschnittliche
       Überlebenszeit eines karibischen Zuckersklaven fünf bis sieben Jahre betrug
       oder dass der Begriff „Zombie“ als Bezeichnung für einen lebenden Toten
       seinen Ursprung auf den Westindischen Inseln hat. Dass die spezielle
       Ausbeutung der Sklavinnen als Frauen nicht mehr Raum in seiner Darstellung
       einnimmt, mag sich aus ihrem geringen Vorkommen in der Karibik erklären,
       schade ist es dennoch.
       
       ## Ein beschädigter Kontinent
       
       Erst nach dem Verbot des transatlantischen Sklavenhandels wurden Sklaven
       etwas besser behandelt und Familiengründungen wurden unterstützt – weil nun
       der Nachschub fehlte. Die Plantagenwirtschaft hatte sich zu diesem
       Zeitpunkt bereits in den Süden der USA verschoben, wo überwiegend Baumwolle
       angebaut wurde.
       
       Afrika blieb als tief beschädigter Kontinent zurück, der sich von dem an
       ihm vollzogenen Menschenraub bis heute nicht erholt hat. French weist in
       diesem Zusammenhang auch auf das kulturelle Erbe der jahrhundertelangen
       Sklavenjagd in Afrika hin: ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber
       Nachbar:innen und politischen Institutionen, das eine demokratische
       Entwicklung bis heute behindert.
       
       Die von den Sklavenbesitzern angehäuften Geldvermögen wurden in den
       kolonialen Mutterländern in die entstehenden Fabriken investiert und
       befeuerten die Entwicklung zu einer kapitalistischen Wirtschaftsweise.
       [2][Karl Marx nannte den Vorgang „ursprüngliche Akkumulation“]. French geht
       weiter. Wie der [3][Historiker Sven Beckert für den Baumwollanbau], zeigt
       French für die Zuckersklaverei, dass sie in wichtigen Teilen bereits
       industriekapitalistisch organisiert war.
       
       So führt er das Beispiel des Plantagenbesitzers Richard Drax, an, der
       schon im 17. Jahrhundert seine Gewinne dadurch zu steigern wusste, dass er
       auf seinem Grund und Boden eine Raffinerie bauen ließ, den industriellen
       Teil der Zuckerherstellung also auf seine eigene Plantage holte. Er führte
       auch Aufseher ein, die die Sklaven zu schnellerem Arbeiten antrieben. Seine
       Neuerungen fanden schnell Nachahmer.
       
       ## Kapitalistisches Wirtschaften
       
       Im 18. Jahrhundert hatte auf den Plantagen der Neuen Welt regelmäßig ein
       kapitalistisches Wirtschaften Einzug gehalten, mit Elementen wie
       Arbeitsteilung, Effizienzsteigerung und Buchführung.
       
       Wie lässt sich in der Gegenwart mit dem bedrückenden Erbe der
       jahrhundertelangen Ausbeutung Afrikas umgehen? Zu dieser Frage äußert sich
       der Autor erstaunlich vorsichtig. Er will den Beitrag der
       Afrikaner:innen zu den wirtschaftlichen und kulturellen
       Errungenschaften der westlichen Welt anerkannt wissen. Und er rät den
       Industrienationen dazu, die strauchelnden Länder Afrikas wirtschaftlich zu
       unterstützen.
       
       Dabei ließen sich aus seiner ebenso kenntnisreichen wie engagierten
       Darstellung viel weiter gehende Forderungen herleiten, beispielsweise die
       nach Reparationszahlungen.
       
       14 Jul 2023
       
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