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       # taz.de -- Neue Lateinamerika-Agenda der EU: Grüner Neokolonialismus
       
       > Die Europäische Union hat ihre Liebe zum „natürlichen Partner“
       > Lateinamerika neu entdeckt. Die Begeisterung der Latinos darüber hält
       > sich in Grenzen.
       
   IMG Bild: Anfang der Woche kommen Staatschefs aus der EU, Lateinamerika und der Karibik (Celac) in Brüssel zusammen
       
       Dunkle Wolken ziehen über dem Gipfel auf: Am Montag und Dienstag kommen
       Dutzende Staatschefs aus der EU, Lateinamerika und der Karibik ([1][Celac])
       in Brüssel zusammen. Dort wird sich wohl zeigen, dass die Unterschiede
       zwischen den Partnern mit den „gemeinsamen Werten“ größer sind, als man
       sich das in den hohen Sphären europäischer Politik und Wirtschaft wünscht.
       Immer wieder wird eine Beziehung „auf Augenhöhe“ beschworen – doch die
       Fakten sprechen eine andere Sprache.
       
       Im letzten halben Jahr haben Olaf Scholz, Robert Habeck, Annalena Baerbock,
       Ursula von der Leyen und viele andere mehr in Lateinamerika für eine
       Energiewende und für neokoloniale Freihandelsabkommen geworben. Konkret
       geht es um den Vertrag mit den Mercosur-Ländern Brasilien, Argentinien,
       Uruguay und Paraguay, der prinzipiell bereits 2019 beschlossen wurde, und
       um die Modernisierung der Abkommen mit Chile und Mexiko.
       
       Mit einem Investitions- und Infrastrukturprogramm will die EU den Einfluss
       Chinas zurückdrängen. 10 von insgesamt 300 Milliarden stellte von der Leyen
       davon für Lateinamerika in Aussicht. Die „Leuchtturmprojekte“ dieses Global
       Gateway drehen sich vor allem um Energie, Transport und Digitalisierung.
       Ein sehr ähnliches Modell allerdings praktiziert China mit seiner „Neuen
       Seidenstraße“ schon seit zehn Jahren. Menschenrechte, Umweltschutz oder gar
       Klimagerechtigkeit sind in beiden Spielarten unterbelichtet.
       
       Die neue Lateinamerika-Agenda, die die Europäische Kommission im Juni
       vorstellte, deckt zwar alle Politikfelder ab, doch die zentrale Rolle
       spielen die kritischen Rohstoffe, die sich europäische Firmen in der Region
       sichern möchten. Der Subkontinent verfügt über rund 40 Prozent der Kupfer-
       und 60 Prozent der Lithiumvorkommen weltweit, Letztere vor allem im
       Dreiländereck Argentinien/Bolivien/Chile.
       
       Seit vier Wochen werden in der argentinischen Provinz Jujuy, wo bereits
       zwei Lithium-Großprojekte funktionieren und viele mehr geplant sind,
       indigene Aktivist:innen verfolgt und verhaftet. Sie fürchten zu Recht
       um ihre Lebensgrundlage im fragilen Puna-Ökosystem. So beteuert etwa BMW,
       das für seine Elektro-SUVs Lithiumkarbonat aus Argentinien bezieht, dieses
       werde „nachhaltig“ gefördert. Doch im ariden Andenhochland trocknen ganze
       Flüsse aus, sinkt der Grundwasserspiegel und werden die Böden verseucht. Es
       handelt sich um „grünen“ Extraktivismus, der Lateinamerika wie schon seit
       500 Jahren seiner Ressourcen beraubt: früher Gold, Silber und Zinn – heute
       „weißes Gold“, Wasser oder Windkraft.
       
       Als Kanzler Scholz im Januar mit einer großen Wirtschaftsdelegation nach
       Argentinien und Chile reiste, machte er keinen Hehl aus dem Interesse
       deutscher Firmen am Lithium, beim Aufbau einheimischer Wertschöpfungsketten
       wolle man aber behilflich sein. Und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von
       der Leyen kündigte in Santiago einen Fonds für grünen Wasserstoff in Höhe
       von 225 Millionen Euro an.
       
       Doch während Wasserstoff noch Zukunftsmusik ist, boomt das Geschäft mit den
       Fossilen weiter und bedroht die in den Förderregionen lebenden Menschen
       existenziell: Aus Kolumbien importiert Deutschland mehr Steinkohle denn je,
       und in Argentinien ist die BASF-Tochter Wintershall Dea beim Fracking und
       in der Offshore-Gasförderung aktiv. Dank deutscher Investitionen werde man
       ein „sicherer Gasproduzent“ werden, sagte Argentiniens Präsident Alberto
       Fernández beim Scholz-Besuch.
       
       Andererseits erinnern sich die lateinamerikanischen Staatschefs aber auch
       gut daran, wie wenig die EU während der Covid-19-Pandemie zur Lieferung
       bezahlbarer Impfstoffe oder gar zu Ausnahmen beim Patentschutz bereit war –
       oft sprangen Russland und China ein. Auf die neuen
       Freundschaftsbeteuerungen reagieren sie daher skeptisch – und auf einseitig
       dekretierte Forderungen allergisch.
       
       Niemand tut dies deutlicher als Luiz Inácio Lula da Silva. Mit Emmanuel
       Macron, von der Leyen oder Scholz spricht der brasilianische Staatschef
       auch öffentlich Klartext. Ihn stören die vom European Green Deal geprägten
       Umweltauflagen, die die EU in einem Zusatzprotokoll zum
       EU-Mercosur-Abkommen festhalten möchte. Das sei inakzeptabel und
       protektionistisch, meint er.
       
       Im April verabschiedete das Europäische Parlament zudem ein Gesetz zur
       Bekämpfung der Entwaldung, das Anfang Juli in Kraft getreten ist. Demnach
       dürfen EU-Firmen ab 2024 keine Produkte mehr importieren, die von
       entwaldeten Flächen stammen. Auch diese vernünftige Maßnahme kritisieren
       Lula & Co als eine einseitige Vorgabe. Sie können und wollen sich nicht mit
       dem mächtigen, devisenbringenden Agrobusiness anlegen. Vor allem aber sehen
       Fernández und Lula bei einer weiteren Marktöffnung Industrien und
       Dienstleistungssektoren ihrer Länder in Gefahr.
       
       Neulich empfahl Brasiliens Präsident den Europäern aus gutem Grund „mehr
       Sensibilität und Demut“. Europa solle seine Verantwortung für das Leid
       anerkennen, das Sklavenhandel und Kolonialherrschaft verursacht haben – und
       sich zu Reparationszahlungen bereit erklären.
       
       Kolumbiens Präsident Gustavo Petro, mit seiner geplanten „gerechten
       Energiewende“ ein Vorreiter auf dem Kontinent, wird sich erneut auch für
       eine andere Drogenpolitik einsetzen, mit der die Gewalt der Kartelle
       eingedämmt werden könnte. Auch einen Schuldenerlass für Urwaldschutz in
       Amazonien schlägt er nicht zum ersten Mal vor. Der Abbau der extremen
       Ungleichheit innerhalb und zwischen den Ländern schließlich ist ein
       weiteres Anliegen der Lateinamerikaner:innen.
       
       Neokoloniale Ausbeutung mit grünem Deckmäntelchen hingegen macht eine Just
       Transition unmöglich – in Lateinamerika, aber auch in Europa.
       
       16 Jul 2023
       
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