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       # taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Timo Berger: Ein Melancholiefilm über drückender Hitze
       
       Als ich am Samstag viel zu früh aufwache, dampfen die Laken schon. Eine
       Gluthitze ist im Anmarsch. Doch ich habe viel auf dem Zettel und eines der
       letzten Zeitfenster für die neue Besucherterrasse auf dem Flughafen
       Tempelhof ergattert.
       
       Die Glastür öffnet sich automatisch, vor mir liegen die letzten Stufen
       hinauf aufs Dach des Kopfgebäudes West. Gleißend schlägt mir die
       Mittagssonne entgegen, reflektiert von feinsten Glasscherben, die rechts
       vom Aufgang das Dach überziehen. Der Security-Mann, der noch schwitzend in
       seinen schwarzen Anzug hineinwächst, lächelt gequält. Vorsichtig betrete
       ich die hellbeigen Holzplanken der Terrasse, die den weiten grauen Bogen
       des Flughafengebäudes leicht erhöht abschließt. Eine Handvoll
       Pioniertouristen, hauptsächlich Männer in Radtrikots, und ein, zwei
       Familien mit Kindern erkunden das Terrain, die neuen Perspektiven auf die
       Stadt. Fahrig knipse ich ein paar Bilder, flüchte vor der UV-Strahlung in
       das filigrane gläserne Trapez des Towers. Dieser ist vollständig entkernt
       von seinen technischen Apparaturen. Alles glänzt wie neu, keine
       eingeritzten Herzen, keine Sticker oder platt gedrückten Kaugummis trüben
       den Eindruck. Ein weiterer Schwung Schaulustiger steppt auf die Terrasse
       mit Sneaker und Regenbogensocken. Unbeeindruckt vom Panorama umarmten sie
       einander. Du schwitzt ja gar nicht, stellt einer fest. Der grinst: Ich habe
       den Aufzug genommen.
       
       Verfolgt von einem kunstvollen Spiel aus Lichtern und Schatten, nehme ich
       die neu gebaute Treppe, die mal neben, mal über der alten, nicht mehr
       tragfähigen durch die verschiedenen architektonischen Schichten des
       Gebäudes in die Tiefe führt. Unten warten bullige Foodtrucks mit Pulled
       Pork und IPA, gelbe Liegestühle; durch den emsigen Rasensprenger springen
       nackte Kinder.
       
       Ich bekomme Lust auf Wasser, beschließe, meine lose Verabredung auf dem
       Motzstraßenfest nicht zu bestätigen, und schwinge mich aufs Rad. Nach einer
       starken Stunde verlasse ich am Borsigturm die vorgeschlagene Route. Im
       Gerippe einer Fabrikhalle posieren Punker für ein Video, daneben Neubauten.
       An den Seeterrassen kette ich mein Gefährt an. Menschen strömen auf das
       Tegeler Hafenfest, mich spült es in die Kölscharena: Dröhnende
       Schlagermusik, Mädchen mit Blumenkronen im Haar, die Ersten beginnen zu
       tanzen. Das ist eine der letzten Berliner Zufluchtstätten für die
       Eigentlichkeit, denke ich. Hier ist alles das, was es scheint. Ein junger
       Mann mit einer Tyskie-Polska-Fahne um die Schultern erzählt seiner blonden
       Begleiterin (einen Lorbeerkranz in den Rücken gestochen) ungefiltert von
       seiner Arbeit bei McDonald’s, an seinem Handgelenk prangt eine matte
       Smartwatch, die Füße versinken in Slippern. Andere tragen Hunde oder
       Kleinkinder mit identischen Griffen vor der Brust. Tattoos gehen nahtlos in
       die floralen Muster der Hemden über. Und bauchfrei ist das neue schick. Die
       kühle Brise vom nahen See her macht alles erträglich. Langsam bekomme ich
       Hunger: Lángos, Pelmeni, Krakauer und Zwiebelkuchen – nur die Brötchen mit
       Bismarckhering, die es sonst an der Promenade gibt, suche ich vergeblich.
       
       Am Abend kurve ich zum zweiten Mal übers Tempelhofer Feld. Im Erika & Hilde
       feiert ein argentinischer Bekannter seinen Abschied von der Stadt. Er ist
       Sänger des Berliner Duos Rudolf, das die Grenzen von Pop, Noise und
       Performance traktiert. Als ich eintreffe, haben sich die wenigen Gäste
       schon in Gesprächscluster verknäult. Da es mir schwerfällt, die meist
       bärtigen Gesichter im Schummerlicht auseinanderzuhalten, bleibe ich an der
       Bar, nippe an einem Glas Weißwein. Ein Melancholiefilm legt sich auf die
       weiterhin drückende Hitze, null Aussicht auf einen erfrischenden Schauer.
       
       18 Jul 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Timo Berger
       
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