URI: 
       # taz.de -- Europas Umgang mit Menschenrechten: Der verlorene Kompass
       
       > Ich bin nach Europa geflohen, weil Europa für Menschenrechte steht. Aber
       > das stimmt nicht mehr, denn Europa lässt Geflüchtete an seinen Grenzen
       > sterben.
       
   IMG Bild: Längst zur Regel geworden: Ertrunkener Migranten am Strand in der Nähe von al-Chums im Juli 2019
       
       Vor einem Jahr hat mein Bruder mir diese Geschichte als Witz erzählt: Ein
       junger Syrer erzählt seinen Freunden, dass er nach Europa gehen möchte und
       nicht länger hierbleiben will. Er sagt, dass das Leben in Europa für
       syrische Geflüchtete schöner und besser ist. Seine Freunde lachen über
       diese dumme Aussage und sagen, dass er nicht bemerkt hat, dass er bereits
       in Europa ist – sie alle leben in Deutschland.
       
       Seitdem denke ich über diese Geschichte nach und mehr und mehr verstehe
       ich, dass sie die Realität widerspiegelt, in der auch ich lebe. Ich lebe
       auch nicht in dem Europa, das ich aus Erzählungen kenne. Das heutige
       [1][Europa] hat so viel von dem verloren, was es ausgemacht hat.
       
       Das sind vor allem die [2][Menschenrechte], die nach einer langen
       Geschichte von Krieg, Kolonialismus, Faschismus sowie dem Plündern anderer
       Kulturen in Europa entstanden sind. Nach den größten Massakern gegen
       Menschen und Religionen galten diese Menschenrechte als Wegweiser. Die
       Menschenrechte wurden ausgebaut und weiterentwickelt und dienten dann auch
       als Grundlage für die [3][Europäische Union]. Die Europäer durften auch als
       Propheten und Beschützer der Menschenrechte im Rest der Welt auftreten,
       denn bei sich hatten sie sie ja schon.
       
       So habe ich die Geschichte jedenfalls gelernt, als Syrer. Meine Generation
       hat gelernt, dass Europa aus seiner langen Geschichte Lehren gezogen hat
       und dass wir in der arabischen Welt das auch machen sollten. Besonders nach
       dem Kalten Krieg, als der [4][amerikanische Imperialismus] langsam auch bei
       uns ankam, und nachdem wir alle die Hoffnung auf [5][Kommunismus],
       [6][Sozialismus] und linke Ideen verloren hatten.
       
       Ich bin aufgewachsen mit dem Wissen, dass der Sozialismus, der aus der
       ehemaligen Sowjetunion nach Syrien importiert wurde, als Wunschlösung
       gegen den Kolonialismus galt. Erst später wurde auch der älteren Generation
       klar, dass der Sozialismus bei uns nur diktatorische Regime gefördert hat.
       Regime, die nicht nur gegen die europäischen Menschenrechte sind, sondern
       einfach gegen die Menschen.
       
       Also galt die neue Hoffnung der Demokratie und den europäischen Werten.
       Viele Syrer*innen meiner Generation sehen nicht die USA als großen
       Bruder, nicht so wie viele Deutsche aus der Nachkriegsgeneration. Wir haben
       nicht diese Erfahrung, dass die USA uns befreit hat und uns auf dem Weg in
       eine stabile Demokratie unterstützt haben. Wir sehen die USA eher als
       imperialistisches Land. Das liegt zum Teil an Regierungspropaganda, und zum
       Teil an der tiefen Wunde, die der [7][Irakkrieg] in der arabischen Welt
       gelassen hat.
       
       Heute denke ich darüber nach, wie das Europa, das ich mir früher in Syrien
       vorgestellt habe, sich von dem Europa unterscheidet, was ich tatsächlich
       kennengelernt habe. Ich habe keinen Weltkrieg und keine Katastrophen wie im
       20. Jahrhundert erlebt. Aber wir alle sehen dabei zu, wie täglich viele
       kleinere Katastrophen an den Grenzen von Europa geschehen.
       
       Vielleicht wirken sie kleiner, weil sie leiser passieren. Menschen
       ertrinken auf ihrer Flucht nach Europa, ohne dass Europa ihre Namen oder
       ihre Geschichten kennt. Und auch die Menschen wie ich, die es nach Europa
       geschafft haben, kennen die Namen derer nicht, die nach uns kamen und es
       nicht überlebt haben. Ich frage mich, ob es etwas gibt, was wir tun können,
       damit das heutige Europa wieder in seine Rolle als Beschützer aller
       Menschenrechte findet.
       
       18 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Politik/Europa/!p4617/
   DIR [2] /Menschenrechte/!t5008645
   DIR [3] /Europaeische-Union/!t5013441
   DIR [4] /US--und-EU--Geopolitik/!5929888
   DIR [5] /Kommunismus/!t5028665
   DIR [6] /Sozialismus/!t5011126
   DIR [7] /20-Jahre-nach-Invasion-im-Irak/!5919996
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hussam Al Zaher
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Hamburger, aber halal
   DIR Europa
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Menschenrechte
   DIR Arabische Welt
   DIR Aktivismus
   DIR Kolumne Hamburger, aber halal
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Schwerpunkt Syrien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Dichter und Aktivist Danilo Dolci: Früchte, die stetig wachsen
       
       Danilo Dolci galt als „Gandhi Italiens“. Mit gewaltfreien Aktionen kämpfte
       er gegen Armut und für Gerechtigkeit. Eine Würdigung zum 100. Geburtstag.
       
   DIR Mein Probetag als Bäckereiverkäufer: In der Brötchenhölle
       
       Ich wollte einen einfachen Job ohne viel Kopfarbeit. Also heuerte ich in
       einer Hamburger Bäckerei an – und war komplett überfordert.
       
   DIR Flüchtlingsdeal mit Tunesien: Schritt zur Barbarisierung
       
       Der Deal zwischen der EU und Tunesien wird vor allem eine Folge haben: Mehr
       Gewalt gegen Menschen auf der Flucht und mehr Tote.
       
   DIR Vorwürfe gegen Italien bei EU-Kommission: Seenotrettung schwer gemacht
       
       Mehrere Organisationen haben sich bei der EU-Kommission beschwert. Ein
       Dekret Italiens behindere sie dabei, Menschen aus dem Mittelmeer zu retten.
       
   DIR US- und EU- Geopolitik: Hybris des Westens
       
       Das Rezept „Demokratie gegen Diktatur“ ist global gesehen zu schlicht. Die
       USA und Europa müssen sich mit ihrem Bedeutungsverlust auseinandersetzen.