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       # taz.de -- Die Wahrheit: Gebenedeit seist du, Mutter Kuhle!
       
       > Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (6): Eine faktische Anbetung
       > hartnäckiger Marienerscheinungen an allerlei abgründigen Orten.
       
   IMG Bild: Aus Nichts kommendes Madonnchen vor Gläubigem
       
       „Da sitzt sie immer und guckt so“, erklärt Gerda Dirmstein aus dem
       pfälzischen Pinselsau und bemüht sich, den vorwurfsvollen Gesichtsausdruck
       der Gottesmutter wiederzugeben, aber der alleinstehenden Endsechzigerin
       gelingt nur ein Merkel-Flunsch. „Außerdem belegt die Jungfrau Maria ständig
       meinen Fernsehsessel“, erklärt sie. „Seit Wochen muss ich abends am
       Küchentisch sitzen und Sudokus lösen, weil Maria die Fernbedienung nicht
       aus der Hand geben will. Das kann doch auch nicht gottgefällig sein“.
       
       Mit etwas Fantasie sei sogar Mariä Sitzkuhle im verschlissenen Polstermöbel
       zu entdecken, behauptet Dirmstein. Viel besser erkennt man die Brandspuren
       an der Decke, die der ungebetene Besuch nach Aussage der Rentnerin
       ebenfalls verursacht. „Ihr Heiligenschein rußt ganz furchtbar. Aber wenn
       ich sage, dass sie den ausmachen soll, stellt sie bloß den Fernseher
       lauter.“
       
       Gerda Dirmstein leidet unter einer besonders hartnäckigen
       Marienerscheinung. „Dabei bin ich Atheistin“, beeilt sich die pensionierte
       Lehrerin zu erklären. Dennoch manifestiert sich die Gottesmutter seit drei
       Wochen uneingeladen in ihrer Dachgeschosswohnung.
       
       ## Geduld mit Madonnen
       
       „Das ist an sich nichts Ungewöhnliches“, erklärt Theologe Sebastian Dasbach
       und rät zur Geduld. „Die längste amtlich beglaubigte Marienerscheinung
       ereignete sich im polnischen Czerniejewo, wo die Mater dolorosa constipata
       über das gesamte Kirchenjahr 1986 ein Etagenklo mehrerer Mietparteien
       blockierte. Heute ist das Klosett natürlich ein stilles
       Wallfahrtsörtchen, dessen Klospülung heilende Kräfte zugeschrieben wird,
       wenn man das blessierte Körperteil in die Schüssel hält, aber für die
       damaligen Bewohner war die Zeit natürlich eine echte Glaubensprüfung.
       Manche Offenbarungen treten sogar bewusst inkognito auf. Im Oberbayerischen
       soll der Heilige Geist jahrelang eine Tankstelle geführt haben, ohne dass
       ihm die Kirche auf die Schliche gekommen wäre.“
       
       Eine Überprüfung der Pinselsauer Erscheinung hat die zuständige Diözese
       jedoch abgelehnt, da die Visionsempfängerin aus der Kirche ausgetreten sei.
       Deswegen hat sich die Rentnerin zu einem ungewöhnlichen Schritt
       entschlossen. Mit Unterstützung des Internationalen Bundes der
       Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) hat Dirmstein die Muttergottes auf
       Unterlassung der ungebetenen Manifestation verklagt. „Andernfalls behalten
       wir uns weitere Klagen vor. Ich sehe vor allem die Tatbestände von
       Hausfriedensbruch und spiritueller Nötigung erfüllt“, erklärt Anwalt Guido
       Remboldt.
       
       Doch der ungewöhnliche Prozess vor dem Bad Dürkheimer Amtsgericht zieht
       sich hin. „Seit Tagen versuchen wir vergeblich zu klären, ob die Angeklagte
       nun vor Gericht erschienen ist oder nicht“, seufzt Remboldt. „Ein
       Gerichtsdiener will ihr Antlitz auf einer Toastscheibe gesehen haben, ein
       Schöffe hingegen im Faltenwurf der Robe, während die Richterin nur den
       typischen Rosenduft wahrgenommen hat, mit dem die Muttergottes nach
       volkskatholischer Vorstellung ihr Erscheinen anzukündigen pflegt.“
       
       ## Opfer der Marien
       
       In der Zwischenzeit haben sich immer mehr Marienopfer bei Gerda Dirmstein
       gemeldet. „Zuletzt eine Elfjährige aus Ravensburg, deren Hausaufgabenheft
       sie gefressen hat.“ Offenbar ist die Heilige Jungfrau nicht nur gebenedeit,
       sondern überaus penetrant. In Castrop-Rauxel erscheint die Muttergottes
       jeden Dienstagabend in einer Herrensauna, in Neumünster lungert sie in
       einer Shishabar herum, im Zoo von Neuwied soll sie den Tigerkäfig geöffnet
       und eine Massenpanik verursacht, im Stuttgarter Schlossgarten wiederum
       mehrfach Passanten angeschnorrt haben.
       
       „Das ist nur die Spitze des Eisbergs, die Dunkelziffer ist viel höher“,
       floskelt Anwalt Remboldt. Er schätzt, dass bereits drei Prozent der
       Bevölkerung unfreiwillige Bekanntschaft mit der Muttergottes gemacht haben.
       Auch ihm selbst habe sie schon übel mitgespielt. „Neulich hat sie das
       Garagentor heruntergefahren, als ich gerade darunterstand.“ Eine Erklärung
       für das rätselhafte Verhalten der religiösen Entität hat der Jurist nicht.
       „Womöglich folgt die Jungfrau ihrem angeborenen Spieltrieb, vielleicht
       wurde die Verhaltensänderung aber auch durch ein traumatisches Ereignis
       ausgelöst. Davon gibt es in der Kirche ja mehr als genug.“
       
       Doch Remboldt sieht nicht nur die katholischen Eigentümer der
       wildgewordenen Apparition in der Pflicht, sondern auch die Politik. „Wir
       brauchen eine vernünftige Obergrenze für Marienerscheinungen oder
       wenigstens die strikte Einhaltung der Nachtruhe.“
       
       Gerda Dirmstein behilft sich fürs Erste mit einem agnostischen Hausmittel.
       Sie streut Zweifel auf den Fernsehsessel, um die Muttergottes zu vergrämen.
       „Bisher funktioniert es“, sagt die Rentnerin. „Maria sitzt jetzt in der
       Küche und kritzelt meine Sudoku-Hefte voll.“
       
       19 Jul 2023
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Bartel
       
       ## TAGS
       
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