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       # taz.de -- Gedenkpavillon in Bremen: Das mahnende Trafohäuschen
       
       > An die Opfer rechter Gewalt erinnert in Bremen ein umgestalteter
       > Zweckbau. Pietätlos? Von wegen: Dieses Mahnmal ist zukunftsweisend.
       
   IMG Bild: Blick in die Gesichter der Opfer: Gedenkpavillon auf dem Marwa-El-Sherbini-Platz
       
       Den ganzen Tag schon hat es geregnet. Aber dann, pünktlich zum Beginn der
       Yortsait an diesem Samstag auf dem Marwa-El-Sherbini-Platz, mitten im
       Bremer Viertel, klingt er ab. Und vereinzelt sogar bricht die Sonne durch
       die Wolken.
       
       „Yortsait“ ist Jiddisch, das Wort steht für „Jahrestag“. Zu der
       Gedenkfeier, die daran erinnert, wie die Ägypterin [1][Marwa El-Sherbini]
       2009 in Dresden ermordet worden war, haben sich rund 60 Menschen rund um
       das Trafohäuschen auf dem 2018 nach ihr benannten Platz versammelt. Denn
       das Trafohäuschen selbst ist auch ein Mahnmal: Seit 2012 wird hier,
       unterstützt vom Energieversorger, dem es gehört, mit Street-Art-Portraits
       an zwölf Opfer rechter Gewalt erinnert.
       
       Sie stehen stellvertretend für die – [2][laut Amadeu-Antonio-Stiftung] –
       219 Menschen, die seit der Wiedervereinigung von Rechtsextremisten ermordet
       wurden. Der Fokus auf Sherbini erklärt sich daher, dass die Pharmazeutin
       und ehemalige ägyptische Handballnationalspielerin bis 2008 in Bremen
       gelebt hatte.
       
       Mit seiner schnöden Alltagsarchitektur passt das Mahnmal insofern besser zu
       den Verbrechen, die es thematisiert, als jede pathetische Plastik oder
       Installation es täte. Und es wirkt in mehr als einer Beziehung
       zukunftsweisend. Auch weil es eben nicht nur einfach da steht, Denkmal ist
       – und fertig.
       
       ## Kristallisationspunkt der Erinnerungskultur
       
       Sondern weil es als Kristallisationspunkt einer sehr gegenwärtigen, auf
       Versöhnung zielenden Erinnerungskultur dient, für sie aktiviert wird, vom
       [3][Dialogprojekt Köfte-Kosher], in dessen Namen am vergangenen Samstag die
       lieben Nachbarn, lieben Freunde, lieben Zufallsanwesenden begrüßt werden.
       
       Und danach ist schon Kunst: Sängerin und Spoken-Words-Poetin Ela Fischer
       führt durch ein rund fünfstündiges Programm. Liebevoll lyrisch kündigt sie
       die Acts an.
       
       Die Bühne ist vis-à-vis des Pavillons aufgebaut. Und während oben eine Band
       von Musikern aus Israel, Palästina, Syrien und Polen einen aufregenden Mix
       aus Jazz und levantinischem Folk spielt, scheint das Mahnmal etwas in den
       Hintergrund gerückt. Beinahe, als reihe es sich ein ins Publikum, als wäre
       es selbst ein zu groß geratener, sehr massiver Zuhörer, der nicht mitwippt
       – aber keinesfalls der Anlass für diese Gedenkveranstaltung ist.
       
       Jenseits ihrer Zeremonialfunktion erlaubt deren Straßenfestcharakter eben
       auch, sich aus der Historie der Gewalt zu lösen. „Wir müssen lebendig
       bleiben“, erklärt die Künstlerin Elianna Renner die Bedeutung der
       Yortsait-Veranstaltung. „Deswegen finde ich es auch wichtig, den Platz als
       lebendigen Ort zu bespielen.“
       
       Von Renner stammt die Mahnmal-Idee. Sie ist Kopf und Herz der
       Köfte-Kosher-Initiative. Und sie hat eben auch entschieden, für den Fall
       Marwa El Sherbinis aufs ashkenazisch-jüdische Konzept zurückzugreifen, an
       eine verstorbene Person jedes Jahr an ihrem Todestag mit einer kleinen
       Zeremonie zu erinnern.
       
       Im muslimischen Kontext gibt es das so nicht, im katholischen Ritus auch
       nur in einer wenig flexiblen Form. „Ich dachte‚ dann klau ich das mal“, so
       Renner, „das macht Sinn, dann kriegt sie einen Gedenktag.“
       
       Der fällt dieses Jahr – es ist ja Samstag – besonders üppig aus: ein
       feministisches, iranisches Rap-Folk-Pop-Crossover-Duo tritt auf, es gibt
       sphärischen Experimental Pop. Es ist ein richtiges kleines Festival der
       Vielfalt, das die Reden eher ergänzen als es zu unterbrechen.
       
       Die Ansprachen klingen dabei etwas kämpferischer, als wenn irgendwo
       irgendein Bürgermeister irgendeinen Kranz niederlegt: Sie beschwören eine
       Welt, „in der man ohne Angst verschieden sein“ könne. Dafür einzutreten,
       „das sind wir Marwa el Sherbini und allen Opfern rechter Gewalt schuldig“,
       beendet die [4][Berliner Publizistin Veronika Kracher] unter Applaus ihre
       Rede. In der deutet sie Sherbinis Ermordung als Tat einer sich selbst als
       Opfer wähnenden, gekränkten Männlichkeit; kein Einzelfall also, weiß Gott!
       
       Auch wenn natürlich Alex Wiens, ihr Mörder, wirklich komplett solo agierte,
       erst durch verbale, dann durch physische Gewalt, vom Wort zur Tat: Er hatte
       die junge Frau, die mit ihrem Kind auf einem Spielplatz war, rassistisch
       aufs Übelste beschimpft. Sie hatte ihn angezeigt. Im Gericht, nach ihrer
       Zeugenaussage, griff er die von ihrem dreijährigen Sohn begleitete
       Schwangere an, stach auf sie ein, 18-mal. Sie verblutete.
       
       Die Strafverfolgung mag Einzeltäter-Geschichten, weil es Schuld ja nur
       individuell gibt. Das verdeckt leicht den gesellschaftlichen Charakter der
       Tat: Sie lässt sich so auf einen persönlichen Konflikt
       verzwischenmenschlichen. Sie schrumpft auf ein Moment persönlicher, im
       Idealfall pathologischer Gefühlsaufwallung zusammen, das sich scheinbar
       einfach beherrschen lässt: wegsperren und gut ist.
       
       ## Verbrannt mit ihren Kindern
       
       Mahnmale machen genau das Gegenteil: Sie holen das Verbrechen in den
       öffentlichen Raum zurück, der sie ermöglicht hat. Sie haben daher,
       vielleicht gerade, wenn sie gelingen, etwas Anstößiges. Zum Beispiel, weil
       sie ja auch das Leid vergesellschaften, ihm einen Mahn- und
       Erinnerungszweck zuweisen, die Opfer wahrnehmbar machen – aber
       möglicherweise eben nur als Opfer. Hätten sie das gewollt? Und hätten sie
       es so gewollt? Und können sie dadurch nicht erneut zu wehrlosen Objekten
       des Hasses werden?
       
       Oh, doch. Aber Letzteres ist selbstredend kein Argument gegen das Gedenken,
       sondern dafür, es als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen und zu
       verteidigen. Auch daran erinnert der Gedenkpavillon: Erst hatte 2012 eine
       von Renner angeleitete Gruppe muslimischer und jüdischer Schüler*innen
       die zwölf Porträts von den Ermordeten an die Wände des Trafohäuschens
       gesprüht, nach Recherchen zu deren Biografien. Dann hatte es Vandalismus
       gegeben, rechte Tags und andere Attacken.
       
       Seit 2018 sind nun die Gemälde restauriert, mit Glastafeln geschützt und um
       kurzbiografische Texte und um eine elektronische Dimension erweitert: Das
       Ortsamt verleiht sogar Virtual-Reality-Brillen, die hier, am Mahnmal,
       erlauben, die Tatorte regelrecht zu besuchen.
       
       Aber auch, wer einfach so vorbeikommt, kann per Smartphone QR-Codes scannen
       und bekommt durch 3-D-Bilder immerhin einen Eindruck beispielsweise von
       jener Seniorenresidenz in Wülfrath bei Düsseldorf, in der Alfred Salomon
       1992 starb: Johann Krohn, ein anderer Heimbewohner, hatte ihn zuerst
       antisemitisch beschimpft und dann totgeschlagen; Krohn, der schon früher
       beim Morden geholfen hatte: in der SS. Juristisch wurde er weder dafür noch
       für die Tötung Salomons ernsthaft behelligt.
       
       Ein anderer Tatort, an den man sich begeben kann, ist jenes [5][Haus in der
       Lübecker Hafenstraße], in dem die aus dem Kongo geflüchtete Françoise
       Makodila Landu mit ihren fünf Kindern 1996 verbrannte, in einem Feuer,
       dessen Brandstifter zu verfolgen sich Schleswig-Holsteins Justiz regelrecht
       geweigert hat.
       
       Sie wurde nur 32 Jahre alt. In Pink, gerahmt von einem glatten schwarzen
       Schopf, schaut das Konterfei der Frau von der Wand des Pavillons. Fein
       geschnitten wirken ihre Züge. In die Ferne scheint ihr Blick zu schweifen,
       ins trübe, norddeutsche Grau.
       
       Später am Nachmittag kommt der Regen noch einmal zurück. Und doch sind die
       Leute dageblieben, und die D*J* Gundi Doll und AZ bringen den Platz zum
       Tanzen, schließlich ist es ja auch recht kühl geworden. Nur wer sich
       vergessen kann, kann auch mit der Erinnerung leben.
       
       4 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Neues-Onlineportal-gestartet/!5782745
   DIR [2] https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/rassismus/todesopfer-rechter-gewalt/
   DIR [3] https://koefte-kosher.de/de
   DIR [4] /Rechte-Hetze-gegen-Journalistin/!5564816
   DIR [5] /Archiv-Suche/!5851736/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Franziska Betz
   DIR Benno Schirrmeister
       
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