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       # taz.de -- Angriff auf Odessa: Kathedrale beschossen
       
       > Bei Raketenangriffen auf die Hafenstadt Odessa wurden historische Gebäude
       > und Kindergärten getroffen. Eine Rakete schlug im Hof unserer Autorin
       > ein.
       
   IMG Bild: 936 zerstört, 2000 wiederaufgebaut, 2023 beschädigt: die Verklärungskathedrale in Odessa
       
       Odessa taz | In der Mitte eines der zentralen Höfe von Odessa sitzt ein
       Mann auf einer zerfetzten Couch. Sein Körper ist voll von Baustaub, er
       trägt zerrissene Kleidung und raucht eine Zigarette. Diese Couch ist alles,
       was von seiner Wohnung übrig geblieben ist. In der Nacht zum Sonntag wurde
       sein Haus von einer russischen Rakete zerstört. „Geschlafen habe ich genau
       auf dieser Couch. Dann hörte ich um drei Uhr morgens eine Explosion und
       alles brach zusammen, ich hörte das Geräusch von zerbrechendem Glas. Ich
       dachte, ich sei tot, aber als ich die Augen aufmachte, sah ich, dass mein
       Haus verschwunden war“, sagte der Bewohner der südukrainischen Hafenstadt
       Odessa.
       
       Fünf Tage in Folge beschießt die russische Armee die Millionenstadt Odessa
       bereits. Jede Nacht schlagen verschiedene Raketen und Kamikazedrohnen in
       der Stadt und der umliegenden Region ein. Dabei wurden Ferienresorts an der
       Küste, Wohnhäuser, Museen und Krankenhäuser zerstört. Die Einwohner
       berichten von den schlimmsten Angriffen auf die Stadt seit Kriegsbeginn im
       Februar 2022. In nur fünf Tagen wurden mehr als hundert Einrichtungen
       teilweise oder vollständig zerstört.
       
       Viele Anwohner übernachten inzwischen in Fluren oder Kellern, denn sobald
       die Menschen sich schlafen legen, ertönen die Alarmsirenen und erneut
       beginnt der Beschuss durch die russische Armee. „Das Geräusch der
       Explosionen ist unglaublich beängstigend – ich renne sofort in Deckung. Bis
       jetzt hat unser Militär viele Geschosse abschießen können, aber einfach nur
       diesen Donner zu hören, macht mir schon Angst. Inzwischen habe ich Angst
       vor jedem Geräusch. Und meine Tochter hat deswegen angefangen zu stottern“,
       erzählt Olena aus Odessa.
       
       In der Nacht zu Sonntag beschoss die russische Armee das [1][historische
       Zentrum von Odessa]. Seit vergangenem Januar wird diese Gegend offiziell
       als Unesco-Weltkulturerbe geführt – ein Meilenstein für die Stadt. Doch nun
       wurden Baudenkmäler und Gebäude von historischer Bedeutung zerstört.
       „Absichtlich waren die Raketen auf das Unesco-Gebäude im Stadtzentrum
       gerichtet! Die jahrelange harte Arbeit von großen Architekten wurde nun
       einfach von zynischen Perversen zerstört!“, betonte Oleg Kiper,
       Vorsitzender der Militärverwaltung von Odessa.
       
       ## Architekturdenkmäler zerstört
       
       Eine russische Rakete hat die berühmte Kathedrale der Heiligen Verklärung
       zerstört, die größte orthodoxe Kirche in der Stadt, die zur
       Ukrainisch-orthodoxen Kirche gehört und [2][die bis Mai 2022
       Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats hieß]. In der
       Kathedrale wurde der Altar beschädigt, alle Fenster wurden herausgebrochen
       und die Fassade des Gebäudes stürzte ein. Einige der orthodoxen Ikonen
       konnten gerettet werden. Eine von ihnen ist die Ikone der Gottesmutter
       Kasperowskaja, die als Schutzpatronin der Stadt gilt. Erst nach einer
       umfassenden Untersuchung der Schäden werden Experten entscheiden, ob die
       Kathedrale restauriert werden kann. Errichtet wurde sie 1795, im Jahr 1936
       zerstört und Anfang der 2000er Jahre an ihrem alten Platz wieder aufgebaut.
       
       „Ein Priester war zum Zeitpunkt des Angriffs in der Kathedrale, aber es
       gelang ihm, sich zu verstecken. Die Hälfte der Kathedrale hat kein Dach
       mehr, die zentralen Säulen und das Fundament wurden zerstört. 1936 wurde
       diese Kathedrale von den Bolschewiken zerstört, die damals an der Macht
       waren. Und jetzt ist sie wieder zerstört“, sagte der Geistliche der
       Odessaer Diözese der ukrainisch-orthodoxen Kirche, der Archdiakon der
       Kathedrale Andrei Palchuk, vor Journalisten.
       
       Odessa ist für seine Strände bekannt, die Touristen anziehen, und seine
       Bauten aus dem 19. Jahrhundert, darunter das [3][Opernhaus].
       
       Nach Angaben der Stadtverwaltung wurden durch den russischen Angriff am
       Sonntag insgesamt 25 der 196 Architekturdenkmäler der Stadt zerstört oder
       teilweise beschädigt. Auch das Haus der Wissenschaftler in Odessa (die
       Villa des Grafen Tolstoi) wurde schwer beschädigt. Das Gebäude wurde 1832
       nach dem Entwurf des Architekten Karl Boffo erbaut. Sowjetische Filme
       wurden einst hier gedreht, zum Beispiel Szenen aus „D’Artagnan und die drei
       Musketiere“. Heute sind alle Säle des architektonischen Denkmals beschädigt
       oder zerstört, und viele Ausstellungsstücke sind vernichtet worden.
       
       Nach Angaben der Direktorin der Bildungsabteilung von Odessa, Olena
       Buinevich, waren außerdem fünf Kindergärten, vier Schulen und zwei
       Förderzentren betroffen. „Die Lehrer sind seit der Nacht im Einsatz und tun
       alles, um die Arbeit wieder aufzunehmen. Aber zwei der beschädigten Schulen
       sind architektonische Denkmäler und haben sehr gelitten“, so Buinevich.
       
       Hunderte von Einwohnern sind durch die jüngsten Raketenangriffe obdachlos
       geworden. Hunderte Autos und die Hafeninfrastruktur wurden beschädigt,
       Stromleitungen wurden durchtrennt. In den Straßen entstanden riesige Löcher
       mit einem Durchmesser von bis zu sechs Metern. Allein durch den Beschuss in
       der Nacht zuvor, von Samstag auf Sonntag, wurden mehr als vierzig Gebäude
       beschädigt. Nach Angaben des Luftwaffenkommandos der ukrainischen
       Streitkräfte setzte Moskau bei diesem Angriff neunzehn Raketen von fünf
       Typen ein. Zwanzig Menschen wurden verwundet, darunter vier Kinder. Ein
       junger Mann starb.
       
       Eine der Raketen schlug im Hof der Autorin dieses Textes ein.
       Glücklicherweise hat das Wohnhaus standgehalten, sie und ihre Kinder sind
       in Sicherheit. In den benachbarten Häusern wurden die Fenster vom ersten
       bis zum sechzehnten Stockwerk herausgesprengt. Jetzt werden die Trümmer
       beseitigt und Tiere und persönliche Gegenstände unter dem Schutt gesucht.
       Die Nachbarn weinen.
       
       Der EU-Chefdiplomat Josep Borrell bezeichnete den jüngsten russischen
       Angriff auf das historische Zentrum von Odessa als „Kriegsverbrechen“.
       „Russland hat bereits Hunderte von Kulturstätten beschädigt und versucht,
       die Ukraine zu zerstören. #Rechenschaftspflicht“, [4][twitterte Borrell].
       „Raketen gegen friedliche Städte, gegen Wohnhäuser, gegen eine Kathedrale.
       Nichts kann das Böse Moskaus rechtfertigen. Und am Ende wird dieses Böse
       verlieren. Für Odessa wird es definitiv eine Antwort auf den russischen
       Raketenterror geben“, reagierte seinerseits der ukrainische Präsident
       Wolodimir Selenski.
       
       Bei den andauernden Raketenangriffen auf Odessa waren außerdem mehrere
       Getreide- und Ölterminals des Hafens das Ziel. Laut dem Sprecher der
       ukrainischen Militärverwaltung wurden dadurch mindestens 60.000 Tonnen
       Getreide vernichtet. Der Auslöser der jüngsten Beschüsse war die
       Nichtverlängerung seitens Russlands des sogenannten
       Schwarzmeer-Getreideabkommens am Montag vor einer Woche, bei dem die UN und
       die Türkei zwischen Kyjiw und Moskau vermittelt hatten. Unterschrieben
       wurde der Getreidedeal im Juli 2022 und danach zweimal verlängert.
       
       Aus dem Russischen: Gemma Terés Arilla
       
       23 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Biografie-der-ukrainischen-Stadt/!5937249
   DIR [2] /Orthodoxe-Ukrainer-gespalten/!5904244
   DIR [3] /Hochkultur-in-Odessa/!5863564
   DIR [4] https://twitter.com/JosepBorrellF/status/1683048327057756162
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tatjana Milimko
       
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