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       # taz.de -- „Jedermann“ in Salzburg: Störung mit Ansage
       
       > Die diesjährigen Salzburger Festspiele sind eröffntet. Der neue
       > „Jedermann“ mit Michael Maertens und Valerie Pachner hat es in sich.
       
   IMG Bild: Valerie Pachner als Buhlschaft, Michael Maertens als Jedermann
       
       Jedermann ist alles Mögliche. Nur eine Frau ist er (bislang) noch nicht.
       Der Tod, Gott und Teufel werden wie selbstverständlich von Frauen gespielt.
       Gott und Teufel gar von einer. Wie auch Buhlschaft und Tod von Valerie
       Pachner verkörpert werden. Das erzkatholische Kultstück „Jedermann“ von
       Hugo von Hofmannsthal [1][gehört zum Selbstverständnis der Salzburger
       Festspiele] und somit von Österreich.
       
       Es ist ein Unikum – mit der wohl höchsten (Edel-)Lederhosen- und
       (Edel-)Dirndldichte bei einem Festspielpublikum. Dazu die wetterbedingte
       Frage vor jeder Vorstellung: Harte Bänke vor atmosphärischer Domkulisse
       oder, etwas bequemer, im Großen Festspielhaus? Diesmal war die Premiere
       drinnen. Also dichter am Theater im herkömmlichen Sinne und weniger am
       Erbauungsspektakel der Salzburger Art.
       
       Bei 14 ausverkauften Vorstellungen ist der „Jedermann“ jedenfalls eine
       Cashcow für die Festspiele. An der simplen Geschichte vom reichen Lebemann,
       der dem Tod zumindest so viel Zeit abhandelt, dass ihm der Weg zur Ein- und
       moralischen Umkehr bleibt, um am Ende zu sterben, kann es nicht liegen. An
       der sperrig knittelnden Sprache auch nicht. Selbst die Inszenierungen sind
       nicht das Besondere, obwohl die deutlich ambitionierter geworden sind und
       sich längst nicht mehr auf die Domkulisse verlassen.
       
       Das galt schon für die beiden Vorgängerinszenierungen von Michael
       Sturminger, erst recht für seine Neuinszenierung. Der besondere Reiz waren
       und bleiben die Schauspieler. Der neue Jedermann, Michael Maertens, etwa
       meinte, er habe sich erst Bedenkzeit ausgebeten und dann nach 27 Sekunden
       zugesagt.
       
       ## „Jedermann“ als Ehrenpreis
       
       Vor allem diese Rolle ist wie ein Ehrenpreis für Schauspieler, der
       weitergereicht wird. Lars Eidinger, Tobias Moretti (und als Einspringer
       Philipp Hochmaier) waren allein Sturmingers Jedermänner. Bei der
       Buhlschaft, der kürzesten Hauptrolle der Theaterliteratur, ist das genauso.
       Nicole Heesters (86) etwa, die (mit der besten Sprachkultur des Abends!)
       die Mutter spielt, war vor 50 Jahren die Buhlschaft an der Seite von Curd
       Jürgens. Wie sie alle jeweils mit dem Erbstück umgehen, wie sie es machen,
       dass die Sprache nicht abperlt, sondern man zuhört, macht die Aura des
       Stückes aus.
       
       Diesmal hat es auch die Inszenierung in sich. Sturminger hat das Spiel vom
       Sterben des reichen Mannes in eine dystopische Landschaft verlegt. Dort
       steht nur noch die Fassade zu dessen Palast. Getafelt wird nicht, es gibt
       nur noch Teppiche auf dem Boden. Alle anderen wohnen schon in Erdlöchern
       und krabbeln wie Lemuren daraus hervor.
       
       Die uniformierte Security kann nicht verhindern, dass ein Trupp der Letzten
       Generation Farbe an die Fassade sprüht. Später brüllen dann aber aus dem
       Parkett auch noch echte Aktivisten der „Letzten Generation“ dazwischen.
       Auch diese Aktion passt zur (nicht stattfindenden) Völlerei an der Tafel
       und somit irgendwie gut ins Stück. Bleibt aber ohne ernsthafte Auswirkung
       für den Verlauf des Abends. Es gab nicht mal eine ernsthafte Irritation im
       Saal. Der Kampf der Gesten ist offenbar schon bruchlos zur Geste der Kunst
       geworden.
       
       Am Anfang und am Ende wird alles von einem schwarzen Tuch bedeckt. Es ist
       eben nicht nur das Spiel vom Sterben des reichen Mannes, sondern
       gleichfalls von den Gefährdungen, ja dem Untergang einer (unserer?) Welt
       geworden. Das mag den Beifall am Ende etwas gedämpft haben. Die außer Mirco
       Kreibich neue Crew und auch die Regie wurden kurz und heftig bejubelt; vor
       allem Michael Maertens. Anfangs, wenn er den Schuldner in den Turm werfen
       lässt, ist er noch der selbstbewusste Ich-kanns-nun-mal-nicht-ändern-Typ.
       
       Wenn Kreibich als goldene Geldballerina zurückkehrt, die wiederum auf ihrem
       Recht ohne Ansehen der Person besteht, sieht Jedermann seinerseits alt aus.
       Der Kapitalismus trifft – ganz so wie der Tod – halt alle. Maertens
       brilliert als Zyniker mit der ihm eigenen Selbstironie, und das nicht nur,
       wenn er sein eigenes Lebensalter in den Text einfügt. Hat allemal auch Witz
       und lässt (nicht nur) im Gespräch mit seiner Mutter den Erzkomödianten von
       der Leine. Am Ende verschwindet alles (die Welt?) unter einem schwarzen
       Tuch.
       
       23 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
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