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       # taz.de -- Geringe Förderung bei ERASMUS+-Programm: Studis mit Mönch-Lebensstil
       
       > Student*innen des Austauschprogramms Erasmus+ erhalten oft viel zu
       > wenig Geld. Eine neue Initiative wirbt im EU-Parlament für Veränderung.
       
   IMG Bild: Das soziale Gefälle zwischen den Ländern kann auch rechtsextremistisches und antieuropäisches Gedankengut befördern
       
       In einem Erasmus-Blogeintrag steht als große Überschrift: „Top 8 cheapest
       countries to study abroad“. Unter anderem sind sechs osteuropäische Länder
       gelistet, nämlich Ungarn, Bulgarien, Polen, Slowenien, Kroatien,
       Tschechien. Was aber passiert, wenn jemand aus diesen Ländern versucht, ein
       Erasmus+ Stipendium in einem – teureren – europäischen Land zu beantragen?
       Viele überlegen sich das zweimal, viele lassen es einfach fallen, denn nur
       von dem Erasmus-Geld kann man selten noch leben.
       
       Nach fast 35 Jahren Geschichte des Erasmus-Programms der Europäischen Union
       (EU) und nach circa 10 Millionen Bürger*innen, die davon profitiert haben,
       bleibt als Hauptproblem die soziale Ungleichheit: nicht nur innerhalb der
       Länder, sondern auch zwischen nord-, süd-, west- und osteuropäischen
       Staaten. Die soziale Inklusion war jedoch eines der Hauptziele der im Jahr
       1987 eingeführten europäischen Förderung.
       
       Im Juni 2022 kündigte der Erasmus-Direktor in Deutschland, Stephan Geifes,
       [1][im Interview mit der taz an], dass die soziale Teilhabe in der
       aktuellen Programmgeneration ausgeweitet werden soll. Damit war eine
       generelle Erhöhung der Förderbeiträge bei Auslandsstudien und -praktika und
       der monatliche Zuschlag von 250 Euro für Studierende aus
       Nichtakademikerfamilien und erwerbstätige Studierende gemeint – insgesamt
       eine Erhöhung des Budgets um 120 Millionen Euro. Der Bonus betrifft in
       Deutschland etwa die Hälfte der Studierendenschaft.
       
       Jetzt, ein Jahr später, hat die Grünen-Fraktion im Europaparlament zusammen
       mit mehreren Zivilorganisationen eine europaweite Kampagne für einen noch
       sozialeren Erasmus+ gestartet. Die Gesichter der Kampagne sind zwei
       EU-Abgeordnete: der als Teil der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein
       aufgewachsene Rasmus Andresen und der rumänische Politiker Nicolae
       Ștefănuță. In ihrer Fraktion in Brüssel dominieren die Politiker mit einer
       Erasmus-Vergangenheit; Ștefănuță hat sie jedoch nicht, weil er bereits 2006
       mit dem Studium fertig war und Rumänien erst 2007 die EU beitrat.
       
       ## Sozialzuschlag als Stigma?
       
       „Ein Student, der in einem anderen europäischen Land studieren möchte, muss
       den Lebensstil eines Franziskaners führen, der sich jeden Cent, jeden
       Ausflug, jede Mahlzeit genau überlegen muss, was sein Leben noch isolierter
       macht, weil er immer einen brutalen Ausgleich zwischen dem sozialen Leben
       und den Grundbedürfnissen schaffen muss“, schreiben Andresen und Ștefănuță
       als Einstieg in die Kampagne.
       
       Ștefănuță kritisiert den in einigen Mitgliedstaaten wie in Deutschland
       eingeführten 250-Euro-Bonus stark: „Niemand bewirbt sich gerne um einen
       Sozialzuschlag, weil er mit einem gewissen Stigma der Armut verbunden ist.“
       Dies schaffe die Idee, dass die Erasmus+ Förderung nur für wohlhabende
       Studierende sei. „Jeder sollte sich bewerben können, unabhängig davon, wie
       viel Mutter oder Vater verdienen.“
       
       Die Wohnfrage bleibt für die meisten das Hauptproblem, denn die wenigsten
       Universitäten bieten ein Wohnheimzimmer an. Mit einem Stipendium von 600
       Euro in Mailand kann sich keiner ein Zimmer, das mindestens 800 Euro
       kostet, leisten. Ganz zu schweigen von Paris, wo die durchschnittlichen
       Lebenshaltungskosten für Studierende bei 1.100 Euro liegen und Studierende
       600 Euro bekommen.
       
       „Neulich sprach ich mit Christina, einer deutschen Studentin, die in
       Bukarest Erasmus macht. Rumänien ist eines der als billig eingestuften
       Länder, jedoch ist das Leben in der Hauptstadt teuer und sie kann nichts
       mit 450 Euro anfangen“, erzählt Ștefănuță. Christinas Eltern schicken ihr
       regelmäßig Geld, damit sie monatlich mehr als 100 Euro noch zum Leben hat –
       nach Wohnung samt Nebenkosten.
       
       ## Sanktionen gegen Ungarn schaden Studis
       
       Laut Angaben des Europäischen Datenportals bleiben Italien, Polen,
       Frankreich, Deutschland, Portugal, die Niederlande und Belgien die
       beliebtesten Erasmus-Ziele für Studierende. „Die EU kann nicht einfach mit
       den Schultern zucken und sagen: ‚Na ja, Student*innen können arbeiten.‘
       Ich höre oft Menschen, die sagen: ‚Oh, Erasmus ist nichts für mich. Das ist
       für die reicheren Kinder.‘“
       
       Die Inflationsrate in der EU lag im Juni bei 6,4 Prozent. Und diese
       Preiserhöhung spiegelt sich vor allem im täglichen Bedarf wider, der
       Studierende direkt betrifft: Lebensmittel, Energie, Wohnen. Mit der neu
       gestarteten Kampagne fordern die EU-Abgeordneten anständige Stipendien, die
       echte Lebenshaltungskosten je nach Region oder Stadt innerhalb eines Landes
       – Paris ist nicht Dijon oder Carcassonne, zum Beispiel – und die
       tatsächliche Inflation in den Zielländern berücksichtigen. Die drei
       Kategorien sollten grundsätzlich erhöht werden, meinen beide Politiker.
       
       Das Problem der Ungleichheit beim Erasmus-Programm schilderte auch eine im
       Januar 2022 veröffentlichte Daten-Recherche des [2][Projekts European Data
       Journalism Network], in der der von 2014 bis 2019 amtierende EU-Kommissar
       für Bildung, Kultur, Jugend und Sport, Tibor Navracsics, zitiert wurde:
       „Wir haben Probleme, bestimmte soziale Gruppen zu erreichen, insbesondere
       Studierende aus wirtschaftlich schwachen Schichten, die den
       Auslandsaufenthalt nicht bezahlen können, weil sie zu Hause nicht genug
       Geld haben.“
       
       In derselben Recherche äußerte sich der Präsident des 1989 gegründeten
       Erasmus Student Network, Juan Rayón, das mit Universitäten europaweit
       arbeitet. „Die Ungleichheit besteht darin, dass es für Student*innen aus
       Süd- und Osteuropa schwierig ist, im Norden und Westen zu studieren,
       während der Gegenaustausch für Studenten aus wohlhabenden Ländern ein
       Kinderspiel ist. Wir müssen diesen Nord-Süd-Austausch erleichtern, denn es
       besteht ein großer Mangel an Verständnis zwischen Nord und Süd“, sagte
       damals Rayón.
       
       Eine jüngste europaweite Umfrage des Erasmus Student Network mit über
       zehntausend Antworten zeichnet ein düsteres Stimmungsbild unter den
       Studierenden: „bedürftig“, „zusätzlich arbeiten müssen“, „die Eltern
       schicken uns Geld“, „ich muss zwei Jobs haben“ sind einige der
       wiederkehrenden Rückmeldungen. Diese Protokolle samt Unterschriften sollen
       diesen Herbst vor der EU-Kommission im Rahmen der initiierten Kampagne
       vorgestellt werden. „Hey, Frau EU-Kommissarin Ursula von der Leyen, wir
       haben ein Problem und hier kommen die Beweise dafür“, wollen sie klagen.
       
       Die Kampagne verfolgt einen doppelten Zweck: zum einen die Neuverhandlung
       des EU-Haushalts, die im Herbst ansteht; zum anderen die Überarbeitung des
       Mehrjährigen Finanzrahmens der EU (MFR), des Siebenjahreshaushalts.
       
       Hinter der sozialen Ungleichheit des Erasmus+ Programms steckt für Andresen
       und Ștefănuță gleichzeitig die Gefahr eines Zuwachses der
       rechtsextremistischen und antieuropäischen Gedanken – gerade in
       osteuropäischen Ländern, die von euroskeptischen und rechtsgerichteten
       Politikern regiert werden. „Es ist ein Skandal, denn gerade die meisten der
       jungen Menschen in dieser Region sind Proeuropäer und lieben Europa. Wir
       dürfen sie nicht verlieren! Brüssel muss das Problem erkennen, bevor die
       Rechtsextremen davon profitieren“, sagt Ștefănuță.
       
       Im Zuge des Streits zwischen Brüssel und Budapest über Verstöße gegen die
       Rechtsstaatlichkeit in Ungarn schließt der Europäische Rat im Januar dieses
       Jahres mehr als 30 Hochschul- und Kultureinrichtungen, darunter 21
       Universitäten, von Erasmus-Mitteln aus. Gemeint sind Einrichtungen, die
       seit 2021 unter der Kontrolle der ungarischen Regierung von Viktor Orbán
       gestellt wurden. „Ich denke, es war gut, die EU-Mittel für Ungarn zu
       kürzen, sonst hätten wir wie nützliche Idioten von Orbáns Regierung
       ausgesehen. Allerdings hätten die Sanktionen gezielter sein müssen“, so
       Ștefănuță. Jetzt schaden sie dem Erasmus-Programm.
       
       26 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Erasmus-Direktor-ueber-Jubilaeum/!5858099
   DIR [2] https://www.europeandatajournalism.eu/cp_data_news/multi-speed-erasmus-economic-inequalities-and-higher-education-opportunities/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gemma Teres Arilla
       
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