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       # taz.de -- Historiker über Proteste in Israel: „Der Bewegung fehlt ein Programm“
       
       > Erneut demonstrierten in Israel Hunderttausende gegen die sogenannte
       > Justizreform. Doch sie hätten darüber hinaus kein gemeinsames Ziel, sagt
       > der israelische Historiker Adam Raz.
       
   IMG Bild: Demonstrantinnen bei Protesten gegen die Regierung in Tel Aviv am 20. Juli
       
       wochentaz: Herr Raz, was hat sich in dieser Woche in Israel abgespielt? 
       
       Adam Raz: In ganz Israel waren in den vergangenen Tagen Hunderttausende auf
       der Straße. Sie haben wichtige Verkehrsverbindungen blockiert, Bahnhöfe
       besetzt. Es ist während der Demos zu Gewalt gekommen, Dutzende wurden
       verhaftet. Seit fast sieben Monaten wird an jedem Donnerstag und an jedem
       Schabbat demonstriert. Der Grund für die große Beteiligung am Protest in
       dieser Woche ist, dass die von [1][Präsident Herzog] angestoßenen Gespräche
       zwischen Regierung und Opposition zu keinem Ergebnis kamen. Demnächst soll
       über einen Teil der sogenannten Justizreform abgestimmt werden, die von den
       Demonstranten als Staatsstreich betrachtet wird. Sie befürchten, dass die
       Gewaltentrennung ausgehebelt werden soll.
       
       Hat die Masse der Protestierenden die Regierung beeindruckt? 
       
       Nein, sie hält an ihrem Vorhaben fest. Die Gewerkschaft der Ärzte hat
       deswegen zum Streik aufgerufen. Hunderte von Soldaten haben erklärt, sie
       würden nicht mehr zum freiwilligen Reservedienst antreten.
       
       Haben sich neue gesellschaftliche Gruppen der Protestbewegung
       angeschlossen? 
       
       Vor allem demonstriert hier die Bourgeoisie, darunter die sehr gut
       verdienenden Angestellten der Hightechindustrie. Es gibt außerdem die
       Gruppe der demonstrierenden Soldaten – und es gibt den linken Block gegen
       die Besatzung. Dass diese Gruppen zusammen auf die Straße gehen, ist
       außergewöhnlich. Die Leute, die diese Bewegung koordinieren, sind keine
       Politiker. Die Straße gibt der Opposition den Takt vor. Deren Köpfe, Jair
       Lapid oder Benny Gantz, hinken hinterher.
       
       Das Ziel ist die Verhinderung der Reform. Darüber hinaus gibt es keine
       Gemeinsamkeiten? 
       
       Ich und meine Freunde vom Block gegen die Besatzung und andere linke
       Organisationen sehen die Proteste der Hightechleute und der Soldaten
       kritisch, weil die Besatzung und der Militarismus der israelischen
       Gesellschaft ein wesentlicher Grund dafür sind, dass wir uns jetzt in
       dieser Situation befinden. Man kann die Politik von ultrarechten Exponenten
       der Regierung wie [2][Itamar Ben-Gvir] oder Bezalel Smotrich nicht
       verstehen, wenn man keinen Begriff davon hat, wie stark Besatzung und
       Siedlungsbau die israelische Gesellschaft prägen. Die protestierenden
       Soldaten wollen nicht darüber sprechen, was es bedeutet, über viele
       Jahrzehnte eine fremde Bevölkerung, die Palästinenser, zu kontrollieren.
       Die Demonstranten aus der Hightechindustrie wollen nicht über Armut und
       Ungleichheit sprechen. Das ist keine linke Protestbewegung.
       
       Die kleine linke Partei Meretz hat es bei den letzten Wahlen nicht mehr ins
       Parlament geschafft, und Avoda, die einst stolze Arbeitspartei, die über
       viele Jahrzehnte in Israel den Ton angegeben hat, ist auf wenige
       Prozentpunkte geschrumpft.
       
       Avoda ist auch keine linke Partei mehr. Die Frage ist in der Tat, was das
       Ziel dieser Bewegung sein soll. Wenn Netanjahu morgen zurücktritt und
       Börsenmakler wird, wird ein anderer Rechter oder gar Ultrarechter
       Ministerpräsident werden. Was dann? Die jetzigen Oppositionspolitiker
       Lapid, Gantz und Lieberman werden dann möglicherweise in einer anderen
       Koalition mit ultrarechten und religiösen Parteien zusammensitzen und
       wieder das tun, was sie schon die vergangenen Jahrzehnte getan haben: eine
       Mixtur aus neoliberaler Politik und Besatzung. Dann werden vielleicht
       wieder Leute wie Naftali Bennett in der Regierung sitzen, der früher ein
       radikaler Führer der Siedlungsbewegung war. Es gibt keinen großen
       Unterschied zwischen Bennett und Netanjahu. Was den Demonstrationen fehlt,
       ist also ein übergreifendes Programm, aber es ist nicht verblüffend, dass
       es dieses Programm nicht gibt.
       
       Viele Beobachter meinen, [3][Netanjahu], der stets den Zentristen gegeben
       hat, sei nur aus Angst vor einer Verurteilung wegen Korruption auf die
       Linie der Ultrarechten eingeschwenkt. 
       
       Ich glaube nicht, dass es Netanjahu nur darum geht, sich und seine Familie
       zu retten. Netanjahu hat bereits in den vergangenen Jahren das Ziel
       verfolgt, die Gewaltenteilung auszuhebeln und den Einfluss der Gerichte auf
       das Regierungshandeln einzuschränken. Seine Minister Smotrich und Ben-Gvir
       streben ein Großisrael an, das bis zum Jordan reicht. Ich denke nicht, dass
       sie eine klare Vorstellung davon haben, wie das gestaltet werden soll. Aber
       sie verfolgen seit vielen Jahren eine Graswurzelpolitik, die zum Ziel hat,
       Israel zu einem autokratischen, fundamentalistischen Staat zu machen.
       Deswegen soll die Regierung mehr Macht bekommen – und die Palästinenser
       sollen dafür bezahlen.
       
       Haben sich arabische Israelis den Protesten angeschlossen? Sie machen
       immerhin 20 Prozent der Bevölkerung aus. 
       
       Die meisten arabischen Israelis gehören zum ärmeren Teil der Gesellschaft.
       Sie nehmen größtenteils nicht an den Demonstrationen teil. Die jungen
       Palästinenser innerhalb der israelischen Gesellschaft sind von diesem Staat
       entfremdet. Wenn man mit diesen Kindern und Jugendlichen spricht, versteht
       man, dass sie keine Zukunft für sich sehen, weil sie nicht das Gefühl
       haben, dass das ihr Staat ist.
       
       Die Meinungsumfragen sagen, dass sich eine deutliche Mehrheit der Israelis,
       um die 60 Prozent, gegen die derzeitige Politik der Regierung ausspricht. 
       
       Am Ende haben wir auch hier in Israel das Problem, das die Demokratie immer
       schon begleitet: dass die Wähler oft nicht rational handeln. Um die 35
       Prozent der Wähler wissen, wenn sie ihr Auto vor dem Wahllokal parken, noch
       nicht, wen sie wählen sollen. Oft wählen sie dann die Partei, die sie immer
       schon gewählt haben.
       
       Manche junge Leute wandern heute aus Israel aus, weil ihnen die Politik zu
       rechts geworden ist und weil es ihnen unmöglich scheint, ihren
       Lebensunterhalt zu verdienen. Welche Rolle spielt die ökonomische Krise für
       die Proteste? 
       
       Der Leitzins ist im vergangenen Monat bereits fünfmal angehoben worden. In
       den vergangenen neun Monaten ist meine Miete um 2.000 Schekel erhöht
       worden, das sind 500 Euro! Israel ist unter den westlichen Staaten an
       vorletzter Stelle, wenn man sich den Index der Einkommensverteilung
       ansieht. Über ein Viertel der Israelis verdient nur den Mindestlohn, 5.500
       Schekel. Die Demonstrationen werden aber vom ökonomisch stärkeren Teil der
       Gesellschaft getragen. Die Angestellten in der Hightechindustrie verdienen
       durchschnittlich um die 30.000 Schekel. Der Unterschied zwischen ihnen und
       den Menschen, die in Aschkelon oder Aschdod leben, ist sehr groß. Die
       entscheidende Frage ist heute, ob es dem Mitte-links-Lager gelingen kann,
       kulturell sehr verschiedene Teile der Bevölkerung, deren ökonomische Lagen
       sich zum Teil drastisch voneinander unterscheiden, zusammenzubringen – um
       grundsätzlich etwas zu ändern und die zwei Projekte, die den israelischen
       Staat in den vergangenen Jahrzehnten geprägt haben, zu beenden: das
       neoliberale Projekt der Privatisierung und das Projekt der Besatzung. Das
       aber wird derzeit überhaupt nicht diskutiert.
       
       David Ben-Gurion musste einst einen Kompromiss schließen, unter anderem
       zwischen Säkularen und Religiösen, um den Staat gründen zu können. 
       
       Es war ein Kompromiss, und es ist immer noch ein Kompromiss. Israel war ein
       neues Projekt, ein neuer Staat. Menschen aus vielen verschiedenen Ländern
       kamen nach dem Holocaust hierher. Es war damals unmöglich, sich auf eine
       Verfassung zu einigen – eben weil das Land auf dem erwähnten Kompromiss
       basierte. Dabei ging es nicht nur um religiöse Fragen, sondern auch um
       ökonomische. Wenn man sich einen der damaligen Verfassungsentwürfe ansieht,
       den Jochanan Bader formuliert hatte, steht dort am Anfang, dass das ganze
       Land bis zum Jordan Israel gehören soll. Diesem Entwurf hätten die linken
       Arbeiterparteien Mapai und Mapam niemals zugestimmt. Im Bereich der
       Wirtschaft galt dasselbe: Da standen sich sozialistische und liberale
       Gesellschaftsentwürfe gegenüber.
       
       Droht dieser historische Kompromiss nun aufgekündigt zu werden? 
       
       In den vergangenen Dekaden hat die Segregation zwischen verschiedenen
       Gruppen in der israelischen Gesellschaft stark zugenommen: zwischen Juden,
       die aus Europa und aus arabischen Ländern stammen, zwischen Säkularen und
       Religiösen, zwischen Leuten aus dem Kibbuz und Städtern, zwischen links und
       rechts. Ihnen ist nur gemein, dass sie sich gegenseitig misstrauisch
       beäugen. Das ist nicht leicht zu ändern und von ultrarechten Politikern
       sehr gut für deren eigene Zwecke zu nutzen. Sie verbreiten vollkommen
       verantwortungslos tagtäglich ihre Hassbotschaften.
       
       22 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Israels-Praesident-in-den-USA/!5945088
   DIR [2] /Ben-Gvir-wieder-auf-dem-Tempelberg/!5935771
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       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Gutmair
       
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