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       # taz.de -- Experte zum Faschismus in den USA: „Bei Trumps Gewalt geht es um Lust“
       
       > Was in den USA seit Trump passiert, sei klar faschistisch, meint
       > Journalist Jeff Sharlet. Nicht nur Weiße fühlten sich davon angesprochen.
       
   IMG Bild: Trump vor Fans in New York 2015
       
       taz: Herr Sharlet, Sie haben lange Zeit den Begriff „Faschismus“ gemieden,
       eher von extremen Rechten gesprochen, um die Bewegung zu beschreiben, die
       Sie beobachten. Weshalb haben Sie nun Ihre Meinung geändert? 
       
       Jeff Sharlet: Der Faschismus war in den USA immer präsent. Es gab Elemente
       des Faschismus, aber er konnte nicht das herrschende Paradigma werden. So
       viele Communities von People of Colour haben in den USA die Erfahrung
       gemacht, unter faschistischer Kontrolle zu leben. Viele Sheriffs haben mit
       faschistischer Macht geherrscht. Aber eine richtige faschistische
       Regierung? Nein, die würden wir nicht bekommen, dachte ich.
       
       Warum? 
       
       Der Grund war derselbe, der die USA unter den Industrienationen so
       ungewöhnlich macht: die Verehrung für Gott. Und manche mögen fragen: Oh,
       ist dieses superchristliche, nationalistische Zeug nicht einfach auch
       faschistisch? Nach dem, was ich gelesen habe, ist ein Kennzeichen des
       Faschismus der Personenkult. Bei diesem Personenkult geht es nicht nur um
       eine Galionsfigur, es geht um eine Lizenz. Es braucht einen irdischen
       Avatar der absoluten Macht – den Übermenschen, wenn man so will –, um all
       die Hitlers, all die kleinen Trumps zu lizenzieren. Ich dachte, sie würden
       den „Vater“ nicht gegen den „Führer“ austauschen. Ich lag falsch.
       
       Wann wurde Ihnen das klar? 
       
       2015, als Trump die goldene Rolltreppe im Trump Tower herunterfuhr, um
       seine Präsidentschaftskandidatur anzukündigen. Die Realität ist, dass
       George W. Bush und George H.W. Bush, gegen die ich demonstriert habe,
       keine Faschisten waren. Sie waren Imperialisten. Es gibt mehr als eine
       Sorte des Bösen auf der Welt. Aber als Trump die goldene Rolltreppe
       herunterkam – das war faschistische Ästhetik. Bis dahin hatten wir in den
       USA, selbst unter Reagan, nicht wirklich einen Personenkult. Wir hatten die
       Gründer, wir hatten den Mythos, und wir hatten die Gewalt. Aber wir
       glaubten an uns selbst: eine strahlende Stadt auf einem Hügel. Bei der
       Gewalt von Trump geht es um Lust. Es handelt sich, wie ich in „The
       Undertow“ zeige, um einen Kult des militanten Erotizismus.
       
       Warum mögen weiße Evangelikale Trump, obwohl er ein dreifach verheirateter,
       vulgärer Mann ist, der offen über seine Affären spricht? 
       
       Ich habe genug mit diesen Leuten zu tun gehabt, um sagen zu können: Junge,
       die reden wirklich gerne und viel über Sex! Der Sex, den man nicht haben
       sollte, ist eines ihrer Lieblingsthemen, ebenso der genaue Weg zum Sex, den
       man nicht haben sollte – und sie können dabei ins Detail gehen. Trump gab
       ihnen die Lizenz dazu. Er gab ihnen die Erlaubnis für unangemessene
       sexuelle Gedanken. Er gab ihnen damit auch die Erlaubnis für faschistisches
       Gedankengut.
       
       In Ihrem Buch „The Undertow“ schreiben Sie über eine Kirche in Omaha,
       Nebraska, in der ein weißer Pastor seine auch aus vielen People of Colour
       bestehende Gemeinde zum Bürgerkrieg aufruft. Wofür steht dieses Bild? 
       
       Pastor Hank Kunneman spricht von der Kirche als Miliz. Wie immer mehr
       Kirchen in den USA unterstützt seine Kirche Waffenbesitz nicht nur, sondern
       die Kirchenmitglieder haben auch Waffen. Pastor Kunneman ist zwar ein
       Weißer, aber in seiner auch Schwarzen Gemeinde bezeichnet er sich selbst
       als Schwarzen Mann. Er sagt „Ich war verloren. Ich war ein weißer Mann. Ich
       ging in die Schwarze Kirche und wurde wiedergeboren.“ Plötzlich befinden
       wir uns also in einem Raum der Wiedergeburt. Er sagt auch: „Diese Männer da
       hinten, diese Männer mit den Waffen, warum sind die da? Die Kirche ist
       bewaffnet, weil die Engel bewaffnet sind. Aber man kann die Engel nicht
       sehen. Wozu brauchen wir also bewaffnete Männer? Damit man sie sehen kann.
       Aus demselben Grund haben wir auch das Kreuz, damit man es sehen kann.“
       
       Er setzt die Waffe und das Kreuz gleich? 
       
       Diese Leute ehren die Waffe. „Ich erkläre es euch mit Psalm 23“, sagt
       Pastor Kunneman, „dein Stock und dein Stab“, und dann macht er einen
       verdammten Elvis-Hüftschwung. Der Stab ist die Waffe und der Phallus. In
       dieser Vorstellung ist Schwarzsein eine Art von Sexualität, und Kunnemann
       besitzt diese potente sexuelle Macht auf die gleiche Weise, wie er
       behauptet, er habe ein Mandat für den Krieg, um die Nation zurückzuerobern.
       Das meint er nicht nur im übertragenen Sinne, er sagt ganz offen: „Der
       Krieg kommt. Wir werden einen Krieg führen, und wir werden ihn gewinnen.“
       
       Wissenschaftler*innen wie Anthea Butler argumentieren, dass „Weißsein“
       ein Versprechen von Macht ist. Es versteckt sich hinter „Farbenblindheit“,
       aber das macht es nicht weniger rassistisch. Es ermöglicht, BPoC in die
       Bewegung aufzunehmen, solange sie sich für die Aufrechterhaltung der
       Strukturen der White Supremacy einsetzen.
       
       Das Wichtigste, was man über die Funktionsweise des amerikanischen
       Faschismus verstehen muss, ist die Art und Weise, wie er People of Colour
       absorbiert. Ich schreibe in „The Undertow“ über eine Kundgebung in Sunrise,
       Florida. Man erwartet dort Kubaner, aber man findet auch eine große
       venezolanisch-US-amerikanische Gemeinschaft, eine
       nicaraguanisch-US-amerikanische, eine große
       puertoricanisch-US-amerikanische Community – sie alle sind für Trump.
       
       Was sind Ihrer Meinung nach die zentralen Ideen, die wir begreifen müssen,
       um das Ausmaß des amerikanischen Faschismus zu verstehen? 
       
       Ist es das Weißsein? Ist es die Klasse? Geschlecht? Misogynie? Die
       Erschöpfung an der Pandemie? Liegt es an den Bildschirmen? Der
       Klimakatastrophe? Ja, all das spielt eine Rolle. Der gemeinsame Nenner ist
       aber Trauer, unverarbeiteter Verlust – sei es der Verlust des Privilegs,
       das mit dem Weißsein einhergeht, sei es realer wirtschaftlicher Verlust,
       sei es der Verlust des Glaubens an die Zukunft. Ob es, wie bei [1][Ashli
       Babbitt], die beim Sturm auf das Kapitol, an dem sie teilnahm, getötet
       wurde, die erdrückende Verschuldung ist, in der sie steckt, oder die
       zunehmende Obdachlosigkeit, die sie umgibt und die sie nicht verstehen
       kann. Menschen wie ihr fehlt eine Sprache für strukturelle Ursachen von
       Problemen – wenn zum Beispiel ein obdachloser Mann in ihren Garten
       defäkiert. Sie sagt sich dann: Ich bin des Mitleids müde, ich bin es leid,
       gegen den Strom zu schwimmen. Und der Sog zieht sie dann in die Wut.
       
       Dieses Interview wurde aus zwei Gesprächen, die über einen Zeitraum von
       zwei Wochen stattfanden, zusammengestellt und gekürzt. Eine längere
       englische Version erschien bei „[2][Religion Dispatches]“.
       
       14 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Geplante-Demo-fuer-US-Kapitolstuermer/!5802302
   DIR [2] https://religiondispatches.org/what-we-need-to-understand-is-that-fascism-is-intersectional-and-erotic-thy-rod-is-thy-gun-with-a-hip-thrust/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Annika Brockschmidt
       
       ## TAGS
       
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