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       # taz.de -- Jiddische Autorin Rosenfarb: Mit Worten die Angst überwinden
       
       > Die auf Jiddisch schreibende Autorin Chava Rosenfarb ist eine
       > literarische Entdeckung. Eine Anthologie von ihr ist nun auf Deutsch
       > erschienen.
       
   IMG Bild: Chava Rosenfarb – hier auf einem Foto aus dem Jahr 2006 in Toronto – verstarb 2011
       
       Auch in ihrer neuen Heimat Kanada schrieb Chava Rosenfarb fast
       ausschließlich in ihrer Muttersprache Jiddisch. „Den Großteil meiner
       Kindheit war es die einzige Sprache, die ich kannte, da wir keinerlei
       Kontakt zu Polen hatten“, schreibt sie in einem ausnahmsweise auf Englisch
       verfassten autobiografischen Essay.
       
       Geboren 1923, wuchs Chava Rosenfarb auf im polnischen Łódź. 1940 musste die
       17-Jährige mit ihren Eltern und der kleinen Schwester in das von den Nazis
       eingerichtete jüdische Ghetto der Stadt ziehen. „Dort lebten wir
       fortwährend dem Hungertod nah und arbeiteten für die Deutschen, in
       ständiger Angst vor der Deportation in die Vernichtungslager.“ Die
       viereinhalb Jahre, die sie im Ghetto von Łódź gefangen war und während
       derer sie die für ihr Leben wichtigste künstlerische Prägung erfuhr, hat
       Rosenfarb in ihrer Romantrilogie „Der boym fun lebn“ (dt. „Der Baum des
       Lebens“) verarbeitet, die 1972 auf Jiddisch erschien.
       
       Seine Autorin bekam mehrere Literaturpreise dafür, darunter den
       Manger-Preis, Israels höchste Auszeichnung für jiddische Literatur, wie
       Rosenfarbs Tochter Goldie Morgenthaler in ihrem Vorwort zur ersten
       deutschsprachigen Anthologie von Texten ihrer Mutter berichtet. Erschienen
       ist dieses „Lesebuch“ im Erlanger Homunculus Verlag, der sich schon
       mehrfach um die (Neu-)Entdeckung von Literatur mit jüdischer Thematik
       verdient gemacht hat.
       
       Auch ein Auszug aus „Der Baum des Lebens“ ist im Band enthalten, ein
       Kapitel, das von einer jungen Frau (eine autobiografisch geprägte Figur)
       handelt, die in einer [1][illegalen Schule im Ghetto] minderjährige
       Zwangsarbeiter einer Metallwerkstatt unterrichtet. Es macht neugierig auf
       den großen Rest des dreibändigen Romans, der aus den wechselnden
       Perspektiven von zehn sehr unterschiedlichen Personen erzählt ist, um das
       Leben im Ghetto von Łódź möglichst umfassend einzufangen.
       
       ## Das jiddische Wort „khurbn“
       
       Doch auch wenn man es spontan bedauern mag, nicht mehr von Rosenfarbs
       wahrscheinlich wichtigstem Werk zu lesen zu bekommen als diesen kurzen
       Auszug von zehn Seiten, ist es doch eine gute Entscheidung, für eine erste
       deutschsprachige Veröffentlichung, die Form der Anthologie zu wählen. Auf
       diese Weise wird das weite Spektrum von Rosenfarbs Schaffen deutlich; und
       ebenso deutlich wird, dass auch der weite zeitliche Horizont, der sich über
       all diesen Texten spannt, und die geografische Entfernung von den einstigen
       Orten des Schreckens nichts daran ändern, dass dieses Schaffen von der
       Erfahrung der Shoah grundiert wird. (Wir lernen auch das jiddische Wort
       dafür: khurbn.) Das Trauma aber erscheint in diesen Texten zu Literatur
       verwandelt, zu künstlerisch durchwirktem Leben.
       
       Die Gedichte, die die junge Autorin im Ghetto von Łódź schrieb, konnte sie
       auf ihrem anschließenden Weg durch mehrere Konzentrationslager nicht
       retten; der Rucksack, in dem sie waren, wurde ihr bei der Ankunft in
       Auschwitz weggenommen. Später rekonstruierte sie viele Gedichte aus dem
       Gedächtnis.
       
       Etwas Lyrik ist auch in diesem Band enthalten; eines der Gedichte war
       erstmals in Rosenfarbs erstem veröffentlichtem Lyrikband wenige Jahre nach
       dem Krieg erschienen.
       
       Der früheste Prosatext der vorliegenden Anthologie ist ein Auszug aus einem
       Tagebuch, das Chava Rosenfarb nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen
       führte, als sie, langsam vom Typhus genesend, in der Krankenbaracke lag.
       Der Wille, Zeugnis abzulegen, ist ein starker Antrieb beim Schreiben, dem
       in der Zeit der Verfolgung enorme Bedeutung zuwuchs, wie Rosenfarb in ihren
       Erinnerungen an die Zeit im Ghetto formuliert: „Der Drang zu schreiben war
       ebenso stark wie der Hunger. […] Jeder Schreibende hatte die Hoffnung, dass
       ihre oder seine Stimme gehört würde. Es war der Drang, sich durch die
       magische Kraft des geschriebenen Wortes über die Angst zu erheben […]
       Selbst in den Konzentrationslagern, selbst angesichts der Flammen des
       Krematoriums gab es jene, die schrieben.“
       
       Auch zwei in späteren Jahren entstandene, abgeschlossene Erzählungen
       enthält der Band. „Der 19. April“ spielt in Israel während einer
       Shoah-Gedenkveranstaltung und evoziert sehr berührend den Geist einer
       ermordeten Geliebten. „In der Serengeti“ spielt in den 70er Jahren [2][in
       Afrika während einer Safari], auf der ein amerikanischer Psychiater
       gleichsam gegen seinen eigenen Willen einen tief in ihm verborgenen,
       verdrängten jüdischen Kern erkennt.
       
       ## Das Leben in einem fiktiven Shtetl
       
       Dass Chava Rosenfarb zeitlebens – sie starb 2011 – dem Jiddischen als
       literarischem Ausdrucksmittel treu blieb, zeigt die kulturelle Stärke
       dieses jüdischen Kerns in ihr selbst. In ihrem Roman „Bociany“ („Die
       Störche“), der vom Leben in einem fiktiven Shtetl erzählt, lässt sie jene
       Vorkriegswelt wieder aufleben, in der das Jiddische als Kultursprache
       gepflegt wurde und die durch die deutschen Faschisten auf immer zerstört
       worden ist. Durch dieses Lesebuch, das durch das Engagement der
       Übersetzerin Sandra Israel-Niang zustandekam, können wir Nachgeborenen nun
       immerhin ausschnittsweise einen kleinen Blick in jene Welt werfen. Und
       vielleicht, hoffentlich, gibt es ja irgendwann auch einen ganzen Roman von
       Chava Rosenfarb auf Deutsch zu lesen.
       
       8 Aug 2023
       
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