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       # taz.de -- Expertin über Hitzeschutz in Deutschland: „Wir müssten es nur wollen“
       
       > Wie können wir Städte hitzeresistent machen, wie vulnerable Gruppen
       > schützen? Knackpunkt sei die Umsetzung, sagt Hitzeexpertin Henny Annette
       > Grewe.
       
   IMG Bild: Vor allem ältere Personen müssen bei Hitze genug trinken
       
       taz: Frau Grewe, eine neue Studie kommt zu dem Ergebnis, dass im Sommer
       2022 mehr als 61.000 Menschen in der EU an Hitze gestorben sind, darunter
       8.173 in Deutschland. Das sind fast dreimal so viele, wie es Verkehrstote
       gab. Wie stirbt man denn an Hitze? 
       
       Henny Annette Grewe: Die klassische Todesdiagnose ist der Hitzschlag: Die
       Körpertemperatur ist auf 41, 42 Grad angestiegen, der Organismus wird
       dadurch derart überhitzt, dass Zellen zerstört werden, Bakterien in die
       Blutbahn eindringen, es kommt zu einem multiplen Organversagen. Die meisten
       Menschen sterben aber schon bei Körpertemperaturen unter 40 Grad.
       
       Weshalb? 
       
       Wir Menschen produzieren durch Stoffwechselvorgänge ständig Wärme und
       werden bei hohen Umgebungstemperaturen zusätzlich erwärmt. Um die
       Kerntemperatur stabil zu halten, müssen wir überschüssige Wärme loswerden.
       Ab etwa 30 Grad Umgebungstemperatur geht das nur über Schwitzen: Damit die
       Wärme abgegeben werden kann, ist ein funktionierendes Herz-Kreislaufsystem
       notwendig, eine gesunde Lunge, eine gut arbeitende Niere, genug Flüssigkeit
       im Körper und so weiter.
       
       Säuglinge und Kleinkinder haben, bezogen auf die Körpermasse, im Vergleich
       zu Erwachsenen eine größere Körperoberfläche, kühlen demnach bei niedrigen
       Umgebungstemperaturen schneller aus, werden bei hohen Umgebungstemperaturen
       aber auch schneller erhitzt. Im Alter oder durch Erkrankungen lässt die
       Leistungsfähigkeit der genannten Organsysteme nach, dies kann bei großer
       Hitzebelastung zu einem Versagen beispielsweise des Herz-Kreislaufsystems
       führen.
       
       Wie ermittelt man denn, ob jemand an Hitze gestorben ist? 
       
       Die wenigsten Menschen werden nach ihrem Tod obduziert, weshalb die exakte
       Todesursache nicht immer bekannt ist. Zur Ermittlung der Hitzetoten wird
       daher ein statistisches Verfahren angewandt. Ganz vereinfacht gesagt: Es
       gibt Erfahrungswerte, wie viele Menschen in einem Bundesland oder einer
       Stadt pro Tag sterben. Wenn nun eine Hitzewelle über das Land zieht,
       registrieren die Behörden eine Übersterblichkeit: Mehr Menschen verlieren
       ihr Leben als „normal“ wäre, und das sind dann – mit etlichen Kontroll- und
       Sicherungsfaktoren überprüft – die hitzebedingten Todesfälle.
       
       Nun hat Deutschland gerade wieder geschwitzt mit Temperaturen von bis zu 38
       Grad. Wie viele Hitzetote gab es diesmal? 
       
       Das Robert-Koch-Institut veröffentlicht seit 2019 Zahlen zur
       „hitzebedingten Mortalität in Deutschland“. Demnach sind hierzulande in
       diesem Jahr bis zum 2. Juli bereits 810 Menschen an Hitze gestorben.
       
       Die Wissenschaft warnt: Die Klimaerhitzung wird mehr „Heiße Tage“ nach
       Mitteleuropa bringen, mehr „Tropische Nächte“ in denen es sich nicht mehr
       unter 20 Grad abkühlt, längere Hitzeperioden. Wie wird sich das Problem des
       Hitzetods in der Bundesrepublik entwickeln? 
       
       Das hängt natürlich davon ab, ob Deutschland sich endlich an die
       Veränderungen anpasst, die wir ja seit dem Hitzesommer 2003 mit 7.600 Toten
       beobachten. Das Bundesumweltministerium hat 2017 Handlungsempfehlungen zum
       Schutz der Bevölkerung vor und bei Hitze veröffentlicht. Dies und die
       heißen Sommer der letzten Jahre haben bereits in einigen Kommunen und
       Bundesländern ein Umdenken bewirkt. Wir brauchen aber nicht nur
       Hitzeaktionspläne, wir müssen sie auch umsetzen.
       
       Zum Beispiel? 
       
       In Kassel gibt es bereits seit mehr als zehn Jahren einen Telefonservice
       für hitzegefährdete Menschen in der Kommune, Köln hat einen
       Hitzeaktionsplan für ältere Menschen implementiert, Worms, Mannheim und
       Nürnberg setzen ihre Pläne gerade um, Hessen hat im Februar einen
       Landes-Hitzeaktionsplan veröffentlicht, um nur einige zu nennen. Gute
       Hitzeaktionspläne sind in der Umsetzung sehr komplex, arbeits-, personal-
       und damit auch kostenintensiv: So etwas setzt man nicht mal eben in einem
       Jahr um, das braucht mehr Zeit und natürlich die entsprechenden Ressourcen.
       
       Was muss ein guter Hitzeaktions-Plan beinhalten? 
       
       Er muss Zuständigkeiten und Maßnahmen für eine akute Hitzewelle und für den
       langfristigen Schutz der Bevölkerung vor und bei Hitze verbindlich
       festlegen. Seit 2005 betreibt der Deutsche Wetterdienst ein
       Hitzewarnsystem. Einer Warnung sollte ein ganzes Bündel von Maßnahmen
       folgen, die über Verhaltenstipps wie nachts lüften, tags die Fenster
       verschatten und viel trinken hinausgehen.
       
       Ein Kernelement sollte die Betreuung vulnerabler Menschen sein. Bei Hitze
       müssten zum Beispiel viele Medikamente anders dosiert werden, gebrechlichen
       Personen sollte beim Einkaufen geholfen werden, Menschen, die in
       überhitzten Wohnungen leben müssen, sollten zumindest stundenweise an
       kühlen Orten Erholung finden können. Enthalten muss ein solcher Plan auch
       Angebote für Wohnungslose – analog zum Kältebus im Winter.
       
       Und langfristig? 
       
       Langfristig muss es darum gehen, unsere Städte und unsere Häuser
       anzupassen. Wir brauchen Frischluftschneisen, um die angestaute heiße Luft
       aus den Straßenfluchten nachts auszuwaschen. Wir müssen die Städte
       begrünen, Bäume kühlen durch ihre Verdunstung bekanntlich. Wir brauchen
       Wasserflächen und müssen dafür sorgen, dass das Wasser, was durch die
       zunehmenden Starkregen zu uns kommt, nicht einfach durch die Kanalisation
       abfließt, sondern zur Verdunstungskühlung und Bewässerung zur Verfügung
       steht. Denn mit Hitze geht sehr oft auch Dürre einher.
       
       Nun hat Bundesgesundheitsminister [1][Karl Lauterbach (SPD) einen
       „nationalen Hitzeschutzplan“] angekündigt. Was ist von diesem zu halten? 
       
       Das ist zunächst einmal eine Absichtserklärung. Aber natürlich ist es zu
       begrüßen, dass der Gesundheitsschutz während Hitzewellen endlich auch im
       Bundesgesundheitsministerium Thema wird. Bislang waren das
       Umweltministerium und das Umweltbundesamt in der Klimaanpassung aktiv. Aber
       der Schutz der menschlichen Gesundheit ist natürlich auch eine Aufgabe des
       Gesundheitssystems und seiner Akteure – nicht nur über die Dosierung der
       Medikamente.
       
       Sie halten das [2][Gebäudeenergiegesetz (GEG)] für eine große Chance zum
       Schutz vor Hitze. Warum? 
       
       Ich halte das GEG für eine in dieser Runde augenscheinlich verpasste
       Chance. Sind Gebäude gut gedämmt und mit Außenverschattung versehen,
       könnten sie auch Schutz gegen Hitze bieten. Leider gibt es im GEG nur für
       Neubauten Anforderungen an den sommerlichen Wärmeschutz, diese basieren
       allerdings auf historischen Daten und berücksichtigen die Klimaprognosen
       nicht. Für Bestandsgebäude gibt es bislang überhaupt keine Verpflichtung
       zur Anpassung.
       
       Ich halte das für unbedingt nachbesserungsbedürftig, unter anderem aufgrund
       der Zuordnung von Pflegeheimen zu „Wohngebäuden“. Für Arbeitsplätze in
       Gebäuden gilt ein Grenzwert von 35 Grad, der bei körperlicher Arbeit zum
       Beispiel in Pflegeheimen oder Krankenhäusern – dies teilweise auch noch in
       Schutzkleidung – als deutlich zu hoch angesehen werden muss.
       
       Als prinzipielle Chance sehe ich das GEG, weil mit der Anpassung von
       Gebäuden Umgebungen, in denen wir uns aufhalten, kühler gemacht werden
       könnten. Dies würde zwar teuer, könnte aber wirken – wir müssten es nur
       wollen. Viel schwieriger umzusetzen ist der Hitzeschutz bei
       „Draußen-Arbeitsplätzen“ auf dem Bau oder in der Landwirtschaft.
       
       Wenn Sie den Kampf gegen Hitze hierzulande mit anderen Europäern
       vergleichen: Wer ist Vorreiter? 
       
       Bezeichnend ist, dass [3][Frankreich] in der eingangs erwähnten Studie
       recht gut abschneidet: Verglichen mit Deutschland gab es 2022 in Frankreich
       sehr viel weniger Hitzetote pro Hunderttausend Einwohner. Frankreich hat
       den Hitzeschutz nach 2003 von höchster Stelle verordnet, über lokale
       Hitzepläne installiert und sogar einen Feiertag abgeschafft, um die
       Maßnahmen auch gegen zu finanzieren.
       
       16 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/lauterbach-hitzeschutz-ist-lebensschutz.html
   DIR [2] /Gebaeudeenergiegesetz-im-Bundestag/!5939011
   DIR [3] /Schutz-vor-Hitzegefahren/!5873277
       
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