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       # taz.de -- Hamburger Undergroundband Kleiber: Bloß nicht zur Paartherapie
       
       > Für die Band Kleiber hat sich ein bunter, undergroundiger, hochkarätiger
       > Haufen zusammengeklaubt. Ihr Debüt erzählt von Liebe und Leiden.
       
   IMG Bild: Die Hamburger Band „Kleiber“ ist eine undergroundige, hochkarätige Gruppe von Musikern
       
       Da denkt man, über Liebe und Trennungen wurde in der Popmusik schon so viel
       gesagt, geschrieben und gesungen, dass nichts mehr überraschen könnte – und
       dann kommt dieses Album daher. Die Band heißt Kleiber, genauso wie der
       Vogel, ihr Werk heißt „Der Krieg der Stille“, und die Musik ist wie eine
       Break-up-Oper konzipiert, hat aber auch einen hohen Hörspielanteil.
       
       Nur wird das Scheitern der Liebe in den Songs ganz anders erzählt als
       bislang; ausgelöst wird es durch einen bösartigen Trennungswurm, der durch
       die Wohnungen in den Städten schleicht und Paare entzweit. „Sie schlafen /
       Und sie träumen / Und merken nicht den Wurm / Wie er sie auflöst / Langsam
       und sanft / Gemächlich stetig / und dann kommt die Angst / die Stadt fährt
       runter“, heißt es im Auftaktstück.
       
       „Der Krieg der Stille“ ist zwar das Debütalbum der Band Kleiber,
       Debütant:innen aber sind die Beteiligten wahrlich nicht: Texter und
       Sänger der Gruppe ist Jens Rachut, der mit seinen früheren Punkbands für
       eine ganz eigene musikalische Sprache steht, Thomas Wenzel (ehemals [1][Die
       Sterne]) steuert die großartigen Percussions und den Bass bei, [2][Fritzi
       Ernst] (einst Schnipo Schranke) bedient das Keyboard. Atli Grund, Mitte der
       Siebziger in der Hamburger Protopunkband Big Balls & The Great White Idiot,
       ist an der Gitarre zu hören, zudem sind Ruth May (Geige/Gesang) und
       Elizabeth Wöllert (Gesang) mit dabei. Und ein Chor!
       
       Es ist ein bunter, undergroundiger, hochkarätiger Haufen, der sich da in
       Hamburg zusammengeklaubt hat. Liebe und Trennungen sind in Rachuts früheren
       Bands schon großes Thema gewesen, vor allem bei seiner Combo Dackelblut
       (etwa „Kolbenfresser“ und „Nichts ist für immer“). So wie hier aber hat man
       das noch nie gehört.
       
       ## Es wird wunderbar krautrocking herumgefreakt
       
       Das liegt auch an der Musik: Das erste Stück „Metaphern“ setzt gleich mal
       mit Rasseln und Klangstäben ein, später ertönen Desperado-Gitarren, ein
       Hauch Tropicalismo weht durch den Track, dann kommen langsame,
       ultramelancholische Klaviertöne und Soprangesang dazu. Parallel hört man
       Rachut als Erzähler, er spricht die Verse eher, als dass er sie singt. Fast
       13 Minuten dauert der Song und setzt den Ton für das Werk. Wie wenig
       erwartbar der Sound dieses Albums ist, zeigt im Anschluss auch „Rum Art“.
       Ein funky Gitarrenlick zieht da repetitiv seine Kreise, später wird
       [3][krautrockig herumgefreakt], Synthies und Streicher ertönen. Im Refrain
       singt ein Chor: „Bloß nicht zur Paartherapie!“. Im Lauf des Albums, im
       Trennungswurmfortsatz, wenn man so will, sind dann verschiedenste Stile zu
       hören: „Perlen und Ketten 1 und 2“, einmal gesungen von Wöllert, einmal von
       Rachut, ist wie ein klassisches Opernstück konzipiert, „Die Astronauten“
       klingt wie deeper Piano-Kammerpop.
       
       Als „traurigste Oper der Welt“ hat Rachut dieses Projekt angekündigt, doch
       der spezielle Humor der Hamburger Gang klingt immer wieder durch, so ist
       das Album unterhaltsam und erzählt in Seitensträngen zum Beispiel von – ja
       – Fußpflegern. Trauer und Depression, die mit einer Trennung einhergehen,
       beschreibt Rachut in „Lebenszeiträuber“ aber mit dringlichen Worten:
       „Fäulnis in dem Wartezimmer meines Gemüts / Eine ekelhafte Ablehnung / oft
       in der Nacht / entkräftete Morgenröte“.
       
       Wie einschneidend eine Trennung ist, wie zum Zeitpunkt einer Trennung eine
       Welt zusammenbricht, erzählt er lyrisch verdichtet und verknappt. Sich von
       der romantischen Liebesvorstellung zu lösen, ist einmal mehr Thema, denn
       nur wenigen ist es vorbehalten, dass eine Liebe lebenslang gelebt werden
       kann. Für alle anderen gilt: „Alles in der Natur vergammelt, verwelkt,
       verdampft oder stirbt.“
       
       Bereits im ersten Song des Albums findet sich die Zeile „Solche Metaphern
       sind wichtig“, dies lösen die 13 Stücke gewissermaßen ein. Kleiber zeichnen
       den Weg vom Verlieben zum Entlieben nach, sie erzählen, wie zwei Menschen
       sich plötzlich hassen, die sich jahrelang geliebt haben – und was passiert,
       wenn in einer Beziehung der Wurm drin ist.
       
       5 Aug 2023
       
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