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       # taz.de -- Neues Album der britischen Band Blur: Nachzügler und Dämonen
       
       > Oh my God! Die britische Popband Blur hat wieder ein neues Album
       > ausgebrütet. „The Ballad of Darren“ zeigt sie in guter Form.
       
   IMG Bild: Oh my God: Blur
       
       t’s a family affair, das zweite Leben der vormaligen Britpop-Combo Blur.
       Zumindest bedienen sich [1][Damon Albarn], Dave Rowntree, Graham Coxon und
       Alex James Verwandtschaftsanalogien, um zu erklären, warum ihre in den
       Neunzigern ikonische Band noch existiert – all den Zerwürfnissen zum Trotz.
       
       „Es wäre falsch, zu behaupten, dass wir alle weiser sind und
       Feindseligkeiten der Vergangenheit angehören“, zitiert der NME Schlagzeuger
       Rowntree lakonisch. „Wir lieben uns, und zugleich können wir uns nicht
       ausstehen – so wie es auch in Familien zugeht.“
       
       Die Alben stehen in der Blur’schen Familienaufstellung dann wohl für den
       Nachwuchs – wobei man von den beiden Nachzüglern, die nach 2003 erschienen
       (als Gitarrist Graham Coxon vorübergehend ausstieg oder – je nach Lesart –
       rausgeworfen wurde) nur das neue Album „The Ballad of Darren“ wirklich
       Gemeinschaftswerk nennen mag.
       
       [2][Den Vorgänger „The Magic Whip“] (2015) hatte Coxon auf den Weg
       gebracht, indem er Skizzen, die bei einer Jamsession in Hongkong entstanden
       waren, in Songs verwandelt hatte, bevor er die anderen ins Boot holte.
       Vielleicht, weil Albarn 2012 während der Arbeit an einem Album vorzeitig
       ausgestiegen war. „The Magic Whip“, so erklärte der Sänger seinerzeit, sei
       für ihn so überraschend wie für ein Paar mittleren Alters, das erneut
       Eltern wird. „Wir hatten keine derartigen Absichten, und plötzlich taucht
       ein weiteres Kind auf.“
       
       ## „Oh, my God, it’s a beautiful boy!“
       
       Beim Nachfolger, den die vier nun in Teamarbeit erstellt haben, legte
       Bassist James im Interview eine Schippe drauf: „Es kam unerwartet. Wir
       wussten nicht, dass wir schwanger waren, und haben auf dem
       Supermarktparkplatz entbunden.“ Und fügt kokett hinzu: „Oh, my God, it’s a
       beautiful boy!“. Das Cover zierte ein wunderbares Foto des Fotografen
       Martin Parr, ebenfalls Chronist britischer Alltäglichkeiten, wie Blur es
       zumindest in ihren frühen Jahren waren.
       
       Aus dem Ärmel geschüttelt klingt die Musik tatsächlich. Wie ein „beautiful
       boy“ oder sonst wie jungsmäßig kommt sie allerdings kaum daher – was ja
       auch etwas peinlich wäre, aus dem Mund von Männern Mitte fünfzig. Das
       Ungestüme, das früher selbstverständlich in den Songs mitlief, ist gedimmt.
       
       Wie schon bei „The Magic Whip“ durchzieht die Songs eine abgehangene
       Melancholie. Charmante, bisweilen cartoonhafte Karikaturen à la „Boys and
       Girls“ bevölkern die Songs kaum mehr. Auch das Expressiv-Emotionale, wie
       etwa bei „No Distance Left to Run“ wirkt zurückgefahren, es ist einem
       verwunderten Blick auf die Welt gewichen. Und einem Modus der
       Selbstbefragung, dem der als Texter gereifte Albarn schon auf seinem
       Soloalbum „Everyday Robots“ (2014) folgte.
       
       Zugleich klingt die Band auf „The Ballad of Darren“ unverkennbar nach Blur.
       Die Songs würden auch funktionieren, wenn nur diese vier Typen auf der
       Bühne stünden, ohne die Schichten von Streichern und Background-Chören, die
       über die Jahre dazukamen – und wirken damit gradliniger als die des
       experimentelleren Vorgängers.
       
       ## Reunion, ja, aber bitte ohne Nostalgie
       
       Dem Vernehmen nach taten sich die vier spontan zusammen, weil Anfang Juli
       zwei Konzerte im Londoner Wembley-Stadion anstanden, erstmals in ihrer
       Laufbahn. Nur noch herzerwärmende Nostalgie-Show zu spielen lässt sich mit
       ihrem Selbstverständnis offenkundig nicht in Einklang bringen, schließlich
       galt die Band schon unter ihren Britpop-Peers als die musikalisch
       abenteuerlustigste. Von dem damit einhergehenden, tendenziell rückwärts
       gewandten Zeitgeist hatten sie sich seinerzeit emanzipiert. Vor 20 Jahren
       löste sich die Band dann zwar nicht offiziell auf, hörte aber de facto auf,
       zu existieren.
       
       Die vier schlugen unterschiedliche Wege ein. Albarn konzentrierte sich auf
       andere musikalische Projekte, – das berühmteste: die [3][Gorillaz].
       
       Coxon frickelte eher in Nischen vor sich – wie es auch seiner Rolle in der
       Band entsprach; er malte, produzierte, betrieb ein Label und schrieb ein
       Vorwort für eine neue englische Übersetzung von Hesses „Narziß und
       Goldmund“. Unlängst veröffentlichte er Memoiren, „Verse, Chorus, Monster!“,
       in denen es unter anderem um Sucht und Kreativität geht.
       
       James ist Käsebauer auf dem Land und zudem Veranstalter eines
       alljährlichen, eher dröge klingenden Musikfestival für Foodies auf seiner
       Farm; Schlagzeuger Rowntree, im Brotberuf Anwalt für Cyberkriminalität, war
       bis 2021 Lokalpolitiker für die Labour-Partei; unlängst veröffentlichte
       auch er sein Solodebüt.
       
       ## Eine Band scheint ihren Frieden gemacht zu haben
       
       2009 hatten sich diese konträren Charaktere wieder so weit zusammengerauft,
       dass sie fortan sporadisch Konzerte gaben. Nun also dieses wunderbar
       beiläufige und unaufgeregt wirkende Album, das tatsächlich klingt, als habe
       eine Band ihren Frieden gemacht – mit sich und den Erwartungen ihrer Fans.
       
       Die beiden Vorab-Singles „The Narcissist“ und „St. Charles Square“
       markieren die ästhetische Spannbreite, in dem sich das abspielt. Letzteres
       erweist sich nach einem knackigen Aufschlag („I fucked up/I’m not the first
       to do it“) als rockigster Song, der bisweilen an Bowie in seinen bratzigen
       Momenten erinnert. Ein vergnüglicher Stomper, trotz des Gefühls von
       Verlust, der mitschwingt. Den titelgebende Platz in London, unweit Albarns
       Zuhause, bezeichnet er als Ort, „where the ghosts of monsters can be
       found“.
       
       Wo auch immer diese Dämonen herkommen – Blur begegnen ihnen mit einer Prise
       Albernheit: Die Zeilen „Here’s something down here / And it’s living under
       the floorboards“ münden in einem herrlichen Horrorfilm-Schrei.
       
       Darren vom Albumtitel gibt es auch. Darren „Smoggy“ Evans war
       Chef-Leibwächter der Band und hat wohl einiges gesehen. Im Auftakt „The
       Ballad“, der auch balladesk in Szene gesetzten Herzschmerz („I just looked
       into my life / And all I saw was that you’re not coming back“) mit einer
       Würdigung zusammenbringt, wird Smoggy gehuldigt: „I fell in love with you
       (I met you at an early show) / You falling / I’ll fall along with you (we
       travelled around the world together)“. Auch darin steckt wohl
       Familiengeschichte.
       
       25 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Stephanie Grimm
       
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