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       # taz.de -- Dystopische Zukunft: Das Virus der neuen Normalität
       
       > Die Hitzerekorde und das Umfragehoch der AfD weisen zusammen in eine
       > Dystopie. Leider gibt es keinen Anlass zur Hoffnung.
       
   IMG Bild: Dank Realitätsverweigerung der AfD: Hier herrscht trotz Krise (noch) Ruhe hinterm Jägerzaun
       
       Zwei Entwicklungen prägen diesen Sommer, die auf den ersten Blick wenig
       miteinander zu tun haben, die aber einen Ausblick auf eine mögliche und
       leider ziemlich dystopische Zukunft erlauben. Die Rede ist auf der einen
       Seite von den Wettereignissen dieses Sommers, die [1][eine sich
       beschleunigende Klimakrise] spiegeln, und den [2][Umfragerekorden der AfD]
       auf der anderen. Beides ist seit Jahren absehbar, gegen beides sind
       wirksame Maßnahmen überfällig und beides trifft sich in einem Punkt: der
       Sehnsucht, zur vermeintlichen Normalität zurückzukehren.
       
       In der Coronapandemie tauchte die Diskussion um Normalität, eine neue
       Normalität, „New Normal“, erstmals auf. Das Virus hatte das öffentliche
       Leben ein- und das gewohnte Leben vollständig auf den Kopf gestellt,
       Kontaktbeschränkungen, Abstand, Maske – sollte das künftig als „normal“
       gelten, fragten sich viele. Wann können wir zu unserem normalen Leben
       zurück, wenn wir es überhaupt können? Inzwischen ist die Pandemie
       überstanden, die alte Normalität ist weitgehend zurückgekehrt, wir sind
       noch mal davongekommen.
       
       Ganz anders sieht es aus bei der Klimakrise. Der diesjährige Sommer bricht
       Hitzerekorde in Serie, ein weiteres Mal, nachdem schon die vergangenen
       Jahre von immer neuen Superlativen und Katastrophen gekennzeichnet waren,
       man denke nur an die wochenlangen Waldbrände in Australien und Kalifornien.
       
       [3][Weitere Katastrophen sind gewiss], ihr Ausmaß dürfte größer und ihre
       Abstände kleiner werden. Teile des Planeten werden unbewohnbar, gewaltige
       Fluchtbewegungen, politische Instabilität und Gewalt folgen.
       
       ## Guterres: „Klimahölle“
       
       Wenn nichts passiert, ändert sich alles, die Erde wird zur „Klimahölle“
       (Antonio Guterres), eine Rückkehr zur Normalität scheint ausgeschlossen.
       Wenn hingegen das Notwendige unternommen würde, wonach es gegenwärtig nicht
       aussieht, ändert sich gleichfalls fast alles.
       
       Wir im wohlhabenden Teil der Welt müssen unseren expansiven Lebensstil
       grundlegend verändern, eine Ökonomie entwickeln, die nicht auf der
       fortgesetzten Übernutzung des Planeten und der exzessiven Ausbeutung seiner
       fossilen Rohstoffe beruht. Dazu gehört die Anerkennung, dass die Erde als
       eine Welt unteilbar ist, dass der Westen kein Vorrecht auf ein gutes Leben
       hat und die Menschen im Globalen Süden folglich nicht mit dem vorlieb
       nehmen müssen, was wir ihnen übrig lassen.
       
       Die notwendige Transformation geht ans Eingemachte, es geht um mehr als nur
       um das gegenwärtige kapitalistische Wirtschaftssystem. Das gesamte, auf
       Verwertung zielende Verhältnis zur Welt und damit praktisch die gesamte
       Moderne steht zur Disposition.
       
       ## Freiheit der Künftigen
       
       Unsere Zivilisation muss ihren auf Wachstum gerichteten Lebensstil hinter
       sich lassen und stattdessen „die Freiheit der Künftigen“ erweitern, wie es
       kürzlich in einem Beitrag in der Zeit hieß. Ein Zurück zur gewohnten
       Normalität kann es mithin auch dann nicht geben, wenn es dem CO2
       ausstoßenden, wohlhabenden Teil der Menschheit gelingen sollte, diese
       wahrhaft epochale Aufgabe zu stemmen.
       
       „Deutschland, aber normal“ war demgegenüber der Slogan der AfD im letzten
       Wahlkampf. Die rechtsradikale Gruppierung mischt seit etlichen Jahren die
       Politik auf und hat sich in einigen Landstrichen vor allem im Osten als
       politische Kraft etabliert. Sie verfolgt eine restaurative Normalität, eine
       völkisch-deutsche Gesellschaft ohne Einwanderung, die aggressive Ablehnung
       fluider Rollenbilder und geschlechtlicher Vielfalt und eine
       patriarchal-autoritäre Ordnung, in der das Recht des Stärkeren gilt.
       
       Das Programm der Partei ist eine einzige Verweigerung der diversen Realität
       der Migrationsgesellschaft und eine Beschwörung einer vermeintlich intakten
       Vergangenheit, in der die Welt der deutschen Kleinbürger noch in Ordnung
       war.
       
       Dass auch die Klimakrise geleugnet und als Erfindung der verhassten
       liberalen Eliten dargestellt wird, braucht eigentlich nicht extra erwähnt
       zu werden. Das Vorteilhafte an der Realitätsverweigerung der AfD ist indes,
       sich des Veränderungsdrucks unserer Zeit zu entledigen, indem er einfach
       als Ideologie weltfremder Eliten hingestellt wird.
       
       ## Die Zeit zurückdrehen
       
       Für einen kurzen Moment kehrt dann Ruhe ein hinterm Jägerzaun, die düstere
       Aussicht der nahenden Katastrophe wird abgelöst durch das Versprechen, die
       Zeit zurückzudrehen und anzuhalten. Normalität eben.
       
       Was in diesem Sommer nun sichtbar wird, ist erst der Anfang einer möglichen
       Entwicklung, in der inmitten zunehmender Naturkatastrophen und bei weiter
       steigendem Veränderungsdruck politische Akteure und Wähler:innen der
       Verlockung nicht widerstehen können, die Realität der Klimakatastrophe
       hinter sich zu lassen und in populistische Phantasmen zu flüchten.
       
       Gewohnte Normalität per Akklamation quasi. In der Union deutet sich schon
       an, wie eine Öffnung zum [4][Krawallkonservativismus US-amerikanischer oder
       britischer Prägung] aussehen könnte, Sahra Wagenknecht führt derweil
       linkspopulistische Realitätsverweigerung mit ihrer devoten Haltung
       gegenüber dem Moskauer Kriegsregime, ihrer Angstrhetorik vom Niedergang
       Deutschlands und ihrer absurden Panik vor Transmännern in Frauensaunen vor.
       
       Corona hat gezeigt, wie offen die Argumente der Populisten in Krisenzeiten
       für blühenden Unsinn waren. Die Kriminalisierung der Klimaproteste der
       Letzten Generation macht deutlich, wie Normalität der Vergangenheit im
       Zweifel von Polizei und Justiz als Status quo verteidigt wird.
       
       ## Wenn Wasser knapp wird
       
       Man mag sich angesichts dessen gar nicht vorstellen, welcher Wahnsinn
       losbrechen könnte, wenn wirklich das Wasser knapp wird, wenn Ereignisse wie
       die Flut im Ahrtal in noch schlimmerer Form wiederkehren, wenn der normale
       Lauf des Lebens also tatsächlich unterbrochen wird und der Ausnahmezustand
       einkehrt.
       
       Leider gibt es wenig Anlass zur Hoffnung. Existenzielle Krisen sind
       gefundenes Fressen für Demagogen und Populisten, seit Jahren arbeiten sie
       schon daran, sich mit einfachen Erklärungen für komplexe Problemlagen als
       selbsternannte Stimme des Volkes gegen die da oben in Stellung zu bringen.
       Sie eint das Versprechen, die Welt nach ihrem Bilde zurechtzubiegen, die
       vorgefundene Wirklichkeit ficht sie nicht an, Widerspruch gilt stets als
       von irgendwelchen Eliten gesteuert.
       
       Politik ist bei Populisten stets Antagonismus, die Polis wird zum
       Schlachtfeld. Es bleibt nur zu hoffen, dass eine vernünftige Mehrheit sich
       für einen demokratischen Weg entscheidet, die notwendigen Umwälzungen
       mitträgt und die Politik besser als derzeit in der Lage sein wird, die
       notwendigen Maßnahmen in ihrer Dringlichkeit zu kommunizieren.
       
       30 Jul 2023
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Lukas Franke
       
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